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Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
Autoren: Batya Gur
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Was war schon so schlimm an einem Abend, einem einzigen, der sinnlos verstreichen würde. In seiner Jugend war er nicht so übertrieben kleinlich gewesen, wie er sich die Zeit vertrieb.
    Vielleicht hätte er gleich dem Bitten seiner Schwester Yvette nachgeben und den Sederabend mit ihr verbringen sollen. Und überhaupt, dieses Ringen mit sich selbst war das Resultat seiner Unbeweglichkeit, die ein Zeichen des Alterns war. Vielleicht war sie auch, wie Schorer behauptete, eine der unabdingbaren Konsequenzen des Alleinlebens. Wie die immer wieder erlebte Enttäuschung der Hoffnung, die man an ein gemeinsames Abendessen mit Bekannten knüpfte, die Enttäuschung über banale Gespräche, mit denen man die Zeit nutzlos vertat.
    Und schon wurde er von Selbstmitleid gepackt, von dem es nicht mehr weit war zu kalter Wut über sich selbst und sein Absondern, das nur von Hochmut und Überheblichkeit zeugte.
    »Du bist nicht besser als alle anderen«, raunte er seinem Spiegelbild zu, während er an einer neuen grauen Haarsträhne zupfte.
    »Du mußt es stoisch sehen. Was in der Wirklichkeit geschieht, ist mitunter bedeutungslos. Der Geist ist frei«, re dete er sich ein und zog sich eilig an. Er trieb sogar eine Fla sche französischen Wein auf, die er Mati an der Tür übergab. Sie hatte mit strahlender Miene gemeint, daß das doch nicht nötig gewesen wäre, und dann hatte er brav zwischen den Gästen Platz genommen, die einen traditionellen Seder zelebrierten.
    Zwischen den Gängen hatte er sich angestrengt mit der Tochter von Mati Balilatis ältestem Bruder unterhalten. Dabei war ihm eingefallen, wie Dani Balilati beim ersten Mal, als er bei ihnen gewesen war, versucht hatte, ihn mit seiner Schwägerin zu verkuppeln. Er bemühte sich, mit dem ihm verbliebenen Humor und Leichtmut den anspornenden Blicken zu begegnen, die Balilati ihnen bei seinen Gängen zwischen Küche und Sedertisch zuwarf.
    Mati Balilati hingegen hatte sich besonders große Mühe gegeben, den Blickkontakt zu vermeiden. Erst als Michael sie für das wunderbare Essen lobte, hatte sie ihre braunen, bänglichen Augen erhoben und gefragt: »Ist es auch wirklich nach deinem Geschmack?« Und er hatte nicht daran gezweifelt, daß sie dabei nicht nur das Essen meinte. Ihre Nichte war errötet und hatte sich schleunigst an den Rändern der Serviette zu schaffen gemacht.
    Vor einer Woche war Michael nach zweijähriger Abwesenheit, in deren Verlauf Dani Balilati darauf geachtet hatte, die »Verbindung aufrechtzuerhalten«, was er bei jedem Anruf und bei jeder Einladung betonte, wieder zum Dienst erschienen. Balilati hatte ihm auf den Arm geklopft, und weil sie ein paar Tage zuvor miteinander telefoniert hatten, hatte er diesmal auf seinen Willkommensschrei verzichtet, als er durch den Flur des zweiten Stockwerks rannte. Er hatte Michael nur laut zugerufen: »Laß nur nichts anbrennen, Michael, das Leben ist sowieso bald vorbei, den Feiertag nächste Woche verbringst du bei uns. Mati macht Kus kus.«
    Weil Michael Balilatis Enthusiasmus nicht mit entschiedener Höflichkeit bremsen konnte, die nach überheblicher Kälte geklungen und Balilatis aufrechten Wunsch nach etwas Nähe verletzt hätte, hatte er am Morgen das Telefon ausgestöpselt.
    Jetzt schaute er auf die Kabelrolle und fragte sich betreten, wofür er so vehement gekämpft hatte. Was war so großartig an seinem hartnäckigen Wunsch, den Feiertag allein zu verbringen, wenn er sich sowieso ständig mit den feuchten Flecken an der Decke und mit dem Zettel, den er in seinem Briefkasten vorgefunden hatte, herumquälte. Auf dem Zettel stand in knappen Worten die Forderung, daß er in den dritten Stock kommen solle, um von den Samirs die vollständigen Unterlagen der Hausverwaltung entgegenzunehmen. Auf der Mieterversammlung, die zwei Tage zuvor stattgefunden und an der Michael wie üblich nicht teilgenommen habe (die Worte »wie üblich« hatte der Verfasser handschriftlich vermerkt), sei der Beschluß gefaßt worden, daß er an der Reihe sei, die Bewohner seines Blocks zu vertreten.
    Für einen Moment dachte Michael, daß es vielleicht besser für ihn wäre, sich mit jemandem, irgend jemandem, zu unterhalten, bevor er völlig in Niedergeschlagenheit versinken würde. Er spielte mit dem Telefonkabel, doch er vermied es, den Apparat anzuschließen.
    Zwar konnte es sein, daß Balilati, auch ohne daß das Tele fon funktionierte, hereinschneite, aber niemand würde sich sonst zu so etwas erdreisten. Wenn er den Apparat
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