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Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
Autoren: Batya Gur
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durch die große Glastür, die zu einem schmalen Balkon führte, auf die umliegenden Hügel und das Orthodoxe-Lehrerinnenseminar-Gebäude schaute, das sich wie eine weiße Schlange krümmte, stellte man fest, daß die Wohnung an ei nem Hang lag und keine Kellerwohnung war.
    Die Stimmen der Kinder, die schon längst ins Haus gerufen worden waren, verstummten. Selbst das Cello, das in den letzten Tagen vor einer Bachsuite stundenlang Ton leitern geübt hatte, schwieg nun. Nur vereinzelte Autos fuh ren über die kurvenreiche Straße, auf die Michaels Blick fiel, als er abwesend den Knopf betätigte. Seine Hände waren seinem Verstand und seinem Ringen zuvorgekommen. Sie waren es, die bestimmten, daß genau zu diesem Zeitpunkt Akkorde aus dem ersten Satz der ersten Symphonie von Brahms den Raum erfüllten. Und binnen einer Sekunde löste sich die friedliche Harmonie, von der er geglaubt hatte, sie nach langen ruhelosen Tagen erlangt zu haben, in nichts auf.
    Denn bereits bei den ersten, spannungsgeladenen Akkor den der Pauken und der Streichinstrumente, die unter der Berührung der Bögen zitterten, überkam ihn eine neue
    starke Unruhe. Sie begann sich einen Weg zu bahnen und ihm auf den Magen zu schlagen. Lauter kleine Ängste, längst vergessene quälende Belastungen, schnürten ihm die Kehle zu. Er blickte nach oben auf die Feuchtigkeit an der Küchendecke. Die Flecken wurden von Tag zu Tag größer, und ihre Schattierungen färbten sich von schmutzigem Weiß zu sattem Grau und Schwarz. Dieses Bild, das sich auf seine Brust legte und wie schwere Erdschollen auf ihr ruhte, ließ ihn nicht mehr los. Die Flecken würden Michael zwingen, sich baldmöglichst an die Nachbarn in der darüberliegenden Wohnung zu wenden, und ihn zu einem Gespräch mit der hochgewachsenen Frau mit den schläfrigen Augen und der nachlässigen Kleidung nötigen.
    Schon vor zwei Wochen hatte er einmal an ihre Tür geklopft. Sie hatte ein brüllendes, sich windendes Baby auf dem Arm gehalten, dem sie zärtlich auf den Rücken geklopft und das sie gewiegt hatte, während sie Michael an der Schwelle ihrer Wohnung gegenüberstand. Hellbraune Locken umrahmten ihr Gesicht, das sie gegen die Wange des Babys schmiegte. Auf einem großen, bunten, abgetretenen Teppich hatten hier und da aufgeschlagene Notenhefte und ein paar hüllenlose CDs gelegen, und in einem großen, offenen, mit grünem Filz bespannten Kasten ruhte vor einem Notenständer das Cello, ein glänzendes, braunrotes Instru ment. Schon damals, als Michael ihre hellen Augen gesehen hatte, die tief lagen und von bleichen Wimpern umsäumt waren, und die dunklen Ränder unter den Augen, die ihre Hilflosigkeit betonten, schon damals hatte er sich schuldig gefühlt, daß er sie überhaupt belästigt hatte. Er hatte offen über ihre Schulter geblickt, wie um ihr einen Hinweis zu ge ben. Denn er hatte erwartet, daß hinter ihr der bärtige Mann erscheinen würde, dem er einmal am Hauseingang begegnet war. Michael hatte gehört, wie dieser Mann die Tür im Stockwerk über seiner Wohnung aufgesperrt hatte, und er dachte, daß es ihr Ehemann war, an den er sich nun wenden und der ihr die zusätzliche Beschwerlichkeit ersparen könne. Aber sie hatte mit zusammengepreßten Lippen, als beantworte sie seinen über sie hinweggleitenden Blick, gesagt, daß sie das Problem erst in ein paar Tagen in Angriff nehmen könne. Das Baby müsse erst von einer Mittelohrentzündung genesen. Auch habe nicht sie, sondern der Vormieter die Flecken verursacht.
    Sie hatte eine tiefe Stimme, angenehm und vertraut, und dennoch hatte Michael plötzlich gemeint, sein Körper sei zu groß und zu aufrecht. Sie schien sich kleiner zu machen, als ob ihr daran gelegen sei, ihn von unten anzusehen. Ihre Hand war fahrig vom Zipfel der dünnen Decke, die das Baby einhüllte, zu den Locken gewandert, die auch auf ihre Schultern fielen, und er hatte die eigenen Schultern sinken lassen, sich entspannt und sich sogleich einverstanden erklärt.
    Es war das erste Mal gewesen, daß er mit ihr gesprochen hatte. In allen Wohnungen, in denen er bisher gewohnt hatte, vor allem nach seiner Scheidung, hatte er streng darauf geachtet, den Kontakt zu den Nachbarn zu vermeiden. Auch zu den Mieterversammlungen war er nie gegangen. In diesem Hochhaus begnügte er sich ebenfalls mit der Lektüre der Mitteilungen an der Korktafel am Eingang. Seine Schecks für Heizkosten, Gartenpflege und Treppenhausreinigung warf er wie die Sonderzahlungen, die er ohne
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