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Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
Autoren: Batya Gur
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wünschte, ich wäre tot.«
    Er schwieg.
    »Du willst nur ... Ordnung schaffen. Für Recht sorgen.«
    Er schwieg.
    »Ich habe keine Wahl«, sagte sie plötzlich in einer Stimme, aus der für einen Augenblick der Haß verschwunden war. »Ich muß mit ihm sprechen, aber allein. Und vor dir. Bevor du mit ihm sprichst. Du wirst nicht dabeisein, wenn ich mit ihm spreche«, drohte sie.
    Er nickte.
    »Ich will allein mit ihm sein. Mit meinem Bruder«, betonte sie. »Sogar ... sogar, wenn ... ist und bleibt er mein Bruder. Er hört nicht auf, mein Bruder zu sein. Und wenn du recht hast, wenn ein Fünkchen wahr ist, an dem, was du sagst, bleibt er dennoch mein Bruder. Und du darfst nichts zu tun haben mit der Schwester eines ... eines Mörders. Das ist das Ende für uns. Wenn du recht hast, und auch wenn du nicht recht hast. Denn du hast mich bei dieser Sache im Stich gelassen und hast dich auf ihre Seite geschlagen.«
    Er spürte, wie er bleich wurde und wie kurz und flach seine Atemzüge waren. Mit jedem ihrer Worte schien es ihm, als ob sie ihn mit dicken Steinen bewarf. Direkt auf seine Brust, direkt in sein Gehirn.
    »Wenn ich mit ihm gesprochen habe, auch wenn du recht hattest, will ich dich nie wieder sehen. Sogar wenn du im Recht bist. Jetzt kann ich dich nicht einmal fragen, ob du willst, daß ich mit ihm spreche. Denn ich muß mit ihm sprechen. Das hast du angerichtet. Selbst wenn du es nicht angerichtet hast, so haben sich die Dinge nun mal entwickelt.«
    Er wollte sie fragen, ob die Dinge anderes wären, wenn er es ihr nicht erzählt hätte, wenn er selbst Theo vernom men hätte, wenn er sie erst später vor eine Tatsache gestellt hätte, wenn er es ihr erspart hätte. Er wollte sie berühren und ihr sagen, wie sehr er die ganze Zeit an ihrer Seite war, und daß es einfach keinen anderen Weg gab. Er wollte ihr erklären, daß nicht die Art und Weise hier eine Rolle spielte, sondern die Tatsache. Aber noch als die Gedanken sich zu Worten formten, wußte er, daß er nichts sagen würde. Denn in diesem Moment, in dem es nur um sie ging, durfte er das Thema nicht auf sich lenken. Sie ist die Hauptsache, sagte er sich. Sie ist die Hauptsache, sie und das Verhör. Und weil es keinen Sinn hatte, ihr etwas zu sagen, da man die Tatsachen nicht ändern konnte. Wenn sie sich dafür entschieden hatte, in ihm den Hauptverantwortlichen zu sehen für die Notwendigkeit, den Tatsachen jetzt ins Auge zu blicken, gab es nichts, was er tun konnte. Jetzt, ermutigte ihn eine andere, neue Stimme, die plötzlich in ihm auftauchte. So sieht sie es jetzt.
    »Du hättest uns helfen können«, sagte sie plötzlich mit dem verzweifelten Ton eines kleinen Mädchens. »Du hät test ...«, und sie wurde still.
    Er breitete die Arme mit der Bewegung der Machtlosigkeit aus, die er so haßte.
    »Deine Arbeit und deine Erfolge sind es, was dir wichtig ist«, sagte sie verbittert. »Du hast dich entschieden.«
    Er wollte protestieren, wollte ihr sagen, daß es keinen anderen Weg gab, aber es hatte keinen Sinn. Mit gesenktem Kopf sah er, wie sie das Thema von der Hauptsache ablenkte. Sie versuchte, die Hauptsache zu umgehen, ihr aus zuweichen, als ob sie einen Feuerring umkreiste. Ihre Lippen waren nach innen gesogen, ihre Zähne gruben sich in die Unterlippe, schließlich erschlafften die Gesichtsmuskeln und ihr Körper, und sie lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Ihre Lippen bewegten sich und formulierten immer wieder, ohne Stimme, wie bei einem Gebet, die Worte: »Ich wünschte, ich wäre tot.« Bis sie schließlich ganz plötzlich, völlig unvermittelt, die Sofalehne losließ, sich aufrichtete und mit ihrer leeren Stimme, der Stimme, die sie nach dem Tod ihres Vaters hatte und auch nach dem Tod Gabriels, sagte: »Ich habe keine Wahl. Ich muß es wissen. So kann ich nicht weiterleben. Nachdem ich die Wahrheit von Theo und nur von Theo erfahre, wird es sich zeigen, ob ich überhaupt noch weiterleben kann. Ob überhaupt noch etwas übrigbleibt.«
     
    Beim ersten Mal wollte er in das blaue Zimmer stürzen, als Theo seine Hände auf ihre Schultern legte. Denn in diesem Moment erschrak er plötzlich aufgrund einer Wahnvorstellung von diesen Händen, wie er sie ihr um den Hals schlang und mit aller Kraft zudrückte. Aber Theo sah nur in ihre Augen – wieder war Michael verblüfft über die Diskrepanz zwischen dem identischen Augenaufbau und dem Ausdruck, in dem keine Ähnlichkeit war. Theos Gesichtszüge vermittelten Kälte und Distanz, und
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