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Oberwasser

Oberwasser

Titel: Oberwasser
Autoren: Jörg Maurer
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Duktus, um eine falsche Fährte zu setzen.
    »Ich werde Ihnen die obere Hälfte der Kopfhaut abziehen«, sagte der Weißkittel, »die Schädeldecke in der Höhe der Ohrenspitzen rundherum vorsichtig aufmeißeln und abheben, so dass das Gehirn zu einem Drittel freiliegt. Keine Angst, Sie bekommen eine Lokalanästhesie, wenn ich Ihnen den Schädel öffne. Sie wissen sicherlich, dass das Gehirn selbst nicht schmerzempfindlich ist. Wenn ich also einen bestimmten Bereich bearbeite, werden Sie das sehen, jedoch nicht spüren.«
    Der Weißkittel tupfte ihm mit einem abgenagten Bleistiftstummel auf den Schädel.
    »Hier zum Beispiel, unter der Schädeldecke, befindet sich das motorische Brodmann-Areal, das für Ihre Füße zuständig ist. Sie werden die einmalige Gelegenheit bekommen, zusehen zu können, wie ich durch Stimulierung des Homunkulus in Ihrem Gehirn Ihren großen Zeh zum Wackeln bringe. Morgen nehmen wir uns dann das sensorische Areal vor und tauchen in die wunderbare Welt der Schmerzen ein.«
    Der Weißkittel sah aus, als würde er diesmal den Bohrer nicht einfach liegen lassen, um ihn am Abend wieder auszuschalten.
    Ich erinnere mich bloß noch daran, dass mir der Weißkittel eine Spritze gesetzt hat. Dann habe ich das Bewusstsein verloren. Ob die Operation durchgeführt worden ist, weiß ich nicht.
    Er ließ den Stift sinken. Er hatte gleich zu Beginn seiner Gefangenschaft in der Höhle seinen Körper von unten bis oben abgetastet, um ihn auf Verletzungen zu überprüfen. Er hatte es aber bisher noch nicht gewagt, die obere Hälfte seines Kopfes zu untersuchen.

5 .
    Dr. Rosenbergers Büro, die überladene Mischung zwischen Dienstzimmer und Vereinsheim, lag im sechsten Stock, mitten in der Stadt, bei Föhn konnte man jedoch durchs Fenster das wuchtige Alpenpanorama des Karwendelgebirges sehen. Und es war oft Föhn. Sie alle lebten im Föhnland.
     
    Dr. Rosenberger war der direkte Vorgesetzte von Kriminalhauptkommissar Jennerwein, und in dieser Eigenschaft hatte er das vollständige Team zu einem vertraulichen Treffen zusammengerufen.
    »Es freut mich, dass Sie den Weg zu mir in die Stadt gefunden haben«, begann Dr. Rosenberger und zeichnete bei dem Wort
Stadt
zwei dicke Gänsefüßchen in die Luft.
    »Sie kennen den Paragraphen 353  b des Strafgesetzbuches: Verletzung von Dienstgeheimnissen. Verstöße gegen die besondere Geheimhaltungspflicht bei besonderen Fällen.«
    Alle nickten.
    »Jeder von Ihnen kann die Teilnahme an der Operation, um die es geht, selbstverständlich ablehnen. Doch auch in diesem Fall gilt der genannte Paragraph. Sie alle verpflichten sich, mit niemandem drüber zu reden, auch nicht – vor allem nicht – mit den Ehegatten. Ist das soweit klar?«
    Wieder nickten alle. Die Teilung von Dienstgeheimnissen mit den Ehegatten stellte bei den wenigsten ein Problem dar. Hansjochen Becker war verheiratet, seine Frau unterrichtete am Gymnasium (war also auch eine Art Spurensucherin – nach Anzeichen von Intelligenz), aber beide redeten grundsätzlich nie über Dienstliches, das stand bei den Beckers sozusagen im Ehevertrag. Nicole Schwattke war ebenfalls verheiratet, sie hingegen besprach eigentlich alles mit ihrem Hunderte von Kilometern entfernten Mann, der ebenfalls Polizist war, die beiden telefonierten jeden Tag eine Stunde zwischen Oberbayern und dem Recklinghäuser Land hin und her. Einen Dreihundertdreiundfünfziger-Fall hatte es in ihrer Ehe noch nie gegeben, sie würden hier die erste Ausnahme machen müssen. Hubertus Jennerwein konnte man getrost als einen Mann in festen Händen bezeichnen – er war mit den Tätern, Zeugen und Teammitgliedern verheiratet, er hatte sich auf eine dauerhafte und glückliche Bindung mit Indizienketten, Schlussfolgerungen und Verfolgungsjagden eingelassen. Aber dafür war ja wohl der fragliche Paragraph nicht vorgesehen. Der Familienstand von Ludwig Stengele schließlich verlor sich ganz und gar im Nebel des Allgäuer Voralpenlandes. Stengele hatte sich in dieser Hinsicht immer bedeckt gehalten, aus keiner Äußerung konnte man auf seine diesbezügliche Daseinsweise schließen. Wohin er nach Dienstschluss verschwand, wusste man nicht. Da Dr. Rosenberger ebenfalls verheiratet war, schien Maria Schmalfuß die einzig richtiggehend Ledige im Raum zu sein. Alle nickten bezüglich des Paragraphen Dreifünfdreibe. Und das Nicken eines bayrischen Beamten wiegt schwer.
     
    »Ich kann mich also auf Sie verlassen«, sagte Dr. Rosenberger zufrieden und
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