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Oberwasser

Oberwasser

Titel: Oberwasser
Autoren: Jörg Maurer
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Nicht bei diesen Leuten. Deswegen hatte er sich solch eine Versicherung für den Fall der Fälle überhaupt erst besorgt. Die Konstruktion des Winkel-Dentisten aus Sewastopol hatte noch einen weiteren Vorteil: Sie war optisch nicht zu erkennen, sie war auch nicht zu ertasten. Viele Befragungsexperten griffen einem vor dem Verhör in den Mund und untersuchten die Zähne, da sie von solchen Tricks wussten. Genau aus diesem Grund war die Krone aus Gold gefertigt und deshalb röntgendicht. In seinem Fall hätte man schon eine Tomographie machen müssen, um den Mechanismus zu entdecken. Aber welcher schmutzige Folterkeller am Ende der Welt war schon mit einem verdammten Kernspintomographen ausgestattet!
     
    War er vielleicht schon wieder in einem solchen Verhörraum? Kam gleich ein Weißkittel herein und nippte genüsslich an einem Glas Champagner? Dagegen sprach, dass sie ihm lediglich seine Schusswaffe abgenommen hatten, eine Brünner M 75 , sonst fehlte nichts. Sie hatten ihm seine Streichhölzer gelassen, seine Ausweise und Papiere, ein paar Schreibstifte, eine Mehrzweck-Drahtschlinge, ein Bündel Banknoten, sogar sein Schweizer Armeemesser, schließlich das Notizbuch, das er sich erst letzte Woche gekauft hatte. Jetzt benützte er es für seine Aufzeichnungen. Er schrieb im Dunkeln, um Streichhölzer zu sparen.
    Erster Tag. Eine Art Kellerverließ mit feuchtkalter Atmosphäre. Bin unverletzt, zumindest nicht schwer verletzt, kann mich bewegen. Unerträglicher Durst. Die Wände: grobe, unregelmäßig große Bruchsteine. Habe dafür ein Streichholz verbraucht.
    Vielleicht war es auch eine nackte, unbehauene Felswand, an die in den Alpen oft überteuerte Appartements im Landhausstil gebaut werden. Aus den vermoosten, scharfen Kanten sickerte fauliges, übelriechendes Wasser. Es war zum Trinken sicherlich nicht geeignet. Er hatte trotzdem gierig an der nassen Wand geleckt. Das hatte den Durst jedoch nur verschlimmert.
    Vielleicht halten sie mich im Keller einer Luxusalpenvilla gefangen. Der Raum muss riesige Ausmaße haben. Ein Probeschrei: hundertfaches Echo von allen Seiten.
    Wie sie ihn hierhergebracht hatten, daran erinnerte er sich nicht. Er war plötzlich hier aufgewacht. Benommen und mit quälenden Kopfschmerzen, aber fähig, sich zu bewegen. Sie hatten wohl keine Chance mehr gesehen, dass er ihnen das verriet, was sie wissen wollten. Sie hatten die Folter aufgegeben und ihn hier zwischen-, vielleicht sogar endgelagert. Würden Sie die Verhöre irgendwann wiederaufnehmen? Warum hatten sie ihn nicht getötet? Er war in den ganzen vergangenen Tagen gefoltert worden, aber weniger auf die körperlich schmerzhafte, sondern auf die wesentlich subtilere und fiesere Psycho-Art.
    In einer Art Zahnarztpraxis. Gefesselt, aber nicht geknebelt auf dem Zahnarztstuhl festgeschnallt. Musikberieselung, vielleicht, um Geräusche von außen zu übertönen. Ein Weißkittel kam herein, er antwortete nicht auf Fragen, bereitete schweigend ein Tablett mit Zahnarztwerkzeugen vor. Zog eine kleine Bohrmaschine aus der Halterung, schaltete sie an. Mit einem Fußschalter ließ er sie ein paar Mal aufjaulen, dann legte er einen großen Briefbeschwerer auf das Pedal, warf das laufende Gerät auf den Tisch und verließ den Raum.
    Die rotierende Nadel war kaum einen Meter von ihm entfernt, und das Geräusch wurde schon nach einer Minute unerträglich. Der Weißkittel hatte keine Anstalten gemacht, seine Mundhöhle auf eine günstige Bohrstelle hin zu untersuchen. Er hatte lediglich die Instrumente vorbereitet. Die Tür stand offen, der Bohrer drehte sich gleichmäßig. Die erste halbe Stunde war nicht die schlimmste. Schlimmer waren die halben Stunden, die noch folgten, und in denen nichts geschah. Außer dass ein Zahnarztbohrer seine übelklingende Soloarie sang. Iiiiiiiih! Endlich, vielleicht am Abend (der Raum hatte keine Fenster und eine stehengebliebene Uhr zeigte wie zum Hohn viertel nach vier) kam der Weißkittel zurück und schaltete den Bohrer ab –
    WELCH EINE WOHLTAT !!!!!!!!!!!!!!!!
    - und stellte wie beiläufig einige Fragen, einige ganz spezielle Fragen, die er nur mit Mühe
nicht
beantwortete. Am nächsten Tag kam der Weißkittel wieder, jetzt etwas gesprächiger. Er selbst hatte einen guten Blick auf einen wohl ganz bewusst angebrachten Spiegel. Er sah darin, dass man ihn kahl rasiert hatte.
    Der Weißkittel sprach hochdeutsch mit leichtem, undefinierbarem Akzent. Vielleicht slawisch, vielleicht auch bewusst mit slawischem
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