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Oberwasser

Oberwasser

Titel: Oberwasser
Autoren: Jörg Maurer
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Holzmayer hängte ihre Handtasche wieder um, nur um irgendetwas zu tun. Beide blieben eine Weile sitzen und warteten, ohne zu wissen worauf. Sie lauschten zitternd in die stille Nacht hinaus, doch nun war kein Seufzen verbogener Karosseriebleche mehr zu hören, selbst die Grillen schwiegen.
    »Was machen wir jetzt?«, stieß die Holzmayerin heraus, und die Angst schnürte ihr die Kehle zu.
    »Wir warten eine halbe Stunde, dann hauen wir ab«, erwiderte der Mühlriedl Rudi, ohne rechte Überzeugung.
    »Was meinst du, wer die waren?«
    »Russen vielleicht.«
    »Ich glaube, wir müssen zur Polizei gehen«, sagte die Holzmayer Veronika irgendwann um vier Uhr in der Frühe. »Vielleicht jeder einzeln.«
    Dann schwiegen sie wieder. Es breitete sich eine Ruhe aus, die nur entsteht, wenn gerade etwas Schreckliches passiert ist.

3 .
    Draußen herrschte herrliches Juniwetter, drinnen standen zwischen den sauber beschrifteten Leitz-Ordnern gravierte Zinnbecher, bedruckte Bierseidel und verstaubte Preispokale, die Wände waren bedeckt mit gerahmten Urkunden und Zeitungsausschnitten – und überall las man etwas von zweiten oder dritten Plätzen bei süd- und oberbayrischen Meisterschaften. Von der Decke hingen Wimpel mit Inschriften wie
Wolfgang-Mayer-Gedächtnisturnier
oder
In Erinnerung an František Hovorčovická
. Der Raum war mit so vielen Erinnerungsstücken vollgestopft, dass keinem normalen Betrachter noch eine zusätzliche Besonderheit aufgefallen wäre.
     
    Kriminalhauptkommissar Hubertus Jennerwein war kein normaler Betrachter, er ließ sich nicht vom Wirrwarr des zusammengesammelten Edelplunders gängeln, ein paar Sekunden, nachdem er den Raum betreten hatte, blieb sein trainierter Blick sofort an einem flachen Tischchen hängen, auf dem ein Schachbrett stand. An den kleinen hölzernen Kämpfern war sicherlich lange und sorgfältig geschnitzt worden (die Könige blickten phlegmatisch uninteressiert, die Damen melancholisch arrogant), doch das eigentlich Auffällige war die geringe Anzahl der Figuren auf dem Feld. Es war wohl eine zu Ende gespielte Partie, die Mehrzahl der kleinen Kämpfer stand außerhalb – die geopferten Bauern und ausgetricksten Offiziere warteten draußen am Spielfeldrand, niedergeschlagen wie enttäuschte Bezirksligaspielerbräute. Jennerwein fand das insofern merkwürdig, als dekorativ aufgebaute Schachspiele meist in der Grundstellung zu sehen sind, manche Chess-Protzer bauten auch berühmte Weltmeisterschaftspartien auf, so etwas wie
Lasker-Capablanca, St. Petersburg, 1918 , kurz vor dem entscheidenden 32 . Zug
. Ein Schachspiel in Endstellung stehenzulassen jedoch war ungewöhnlich, und das fiel Jennerwein sofort auf. Nicht dass er besonders gut Schach gespielt hätte, er beherrschte nicht viel mehr als die Regeln, aber er hatte nun einmal die Begabung, an den unübersichtlichsten Tatorten sofort das Auffällige, das Merkwürdige, das aus dem Rahmen Fallende herauszufiltern, selbst wenn es ein ihm vollkommen fremder Ort war. Und die meisten der Räume, die er betrat, betrat er das erste Mal, das unterschied einen Kriminaler Raub/Mord/Erpressung deutlich von einem Oberstudienrat Deutsch/Geschichte/Sozialkunde. War die merkwürdige Konstellation dort auf dem Brett vielleicht ein Schachrätsel aus der Samstagsbeilage, so etwas wie
Matt in drei Zügen
? Dafür jedoch war die Situation zu eindeutig, die Weißen waren drückend überlegen, für ein Rätsel war die Endstellung viel zu leicht. Es war nicht einmal Matt in einem Zug, es war Matt ohne irgendetwas. Warum aber hatte der Spieler der geschlagenen Schwarzen den König dann nicht, wie es üblich war, aufs Brett gelegt?
     
    Vier weitere Mitglieder der Mordkommission  IV betraten den Raum. Jennerwein trat einen Schritt zur Seite und beobachtete unauffällig, ob noch jemandem das sonderbare Schachspiel auffiel. Als Erste erschien die Polizeipsychologin Dr. Maria Schmalfuß. Sie kam gerade frisch von einer zweiwöchigen Profiler-Fortbildung, ihr Kopf war vollgestopft mit Täterprofilanalysen und Tatablaufszenarien. Sie blieb mitten im Raum stehen und ließ ihren Blick über die Urkunden und Preisbecher schweifen.
    »Pathologische Sammelleidenschaft«, flüsterte sie halblaut in Richtung Jennerwein. »Zeigt den infantilen Wunsch nach einer überschaubaren, einfachen Welt.«
    »Oder zeigt, dass der Sammler nicht weiß wohin mit seiner freien Zeit«, maulte der ebenfalls in den Raum tretende Stengele. Hauptkommissar Ludwig Stengele, der
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