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Oberwasser

Oberwasser

Titel: Oberwasser
Autoren: Jörg Maurer
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war es auch ein Stoßgebet. Kleine Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Beide wagten es nicht, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, so groß war ihre Angst, das Geknarze des maroden Unfallwagens könnte sie verraten. Die Gestalten kamen Schritt für Schritt näher, einer zeigte sogar in ihre Richtung. An Flucht war jetzt nicht mehr zu denken.
    »Hast du dein Stichmesser dabei?«, presste die Veronika heraus.
    Der Mühlriedl Rudi schluckte und schüttelte den Kopf. Nein, natürlich nicht. Wer nimmt zu einem nächtlichen Rendezvous schon ein Stichmesser mit? Die schwarz gekleideten Männer da draußen sahen auch nicht so aus, als ob man sie mit einem Brotzeitmesser in Schach halten könnte. Sie waren jetzt nur noch zehn oder fünfzehn Meter vom Benz entfernt. Einer von ihnen torkelte, als ob er betrunken wäre. Doch er war nicht betrunken, man hatte ihm die Arme hinter dem Rücken gefesselt, durch die Stöße der beiden anderen konnte er das Gleichgewicht nur mit Mühe halten. Sein Mund war mit einem Band verklebt, und er wand sich unter Schmerzen. Einer der beiden anderen nahm das Eisenrohr vom Boden auf und schlug ihm ohne Vorwarnung von hinten in die Kniekehlen, so dass er strauchelte und zusammensackte. Er blieb leblos liegen. Die beiden packten ihn an den Füßen und schleiften ihn über den grobkörnigen Kiesboden. Dabei blieben die Kopfhörerkabel seines neongrünen iPod immer wieder an einzelnen Steinen hängen. Sein Kopf holperte über die Schlaglöcher, sie beachteten es nicht. Dann hielten sie inne und sahen sich um. Sie schienen ein Versteck zu suchen. Der Mühlriedl Rudi schloss die Augen.
    »Die werden doch nicht ausgerechnet –«
    Die Holzmayerin hielt sich die Hand vor den Mund, ihre Augen waren weit aufgerissen. Doch die beiden Gestalten bemerkten die unfreiwilligen Zeugen nicht, sie richteten den leblosen Körper auf, fassten ihn an Armen und Beinen, um ihn zu einem alten Ford zu tragen, der nur ein paar Meter neben dem Benz stand. Die Gesichter der beiden Schlepper waren nicht zu erkennen, sie trugen schwarze Skimützen, die sie tief in die Stirn gezogen hatten. Einer öffnete den Kofferraum des Wagens, der andere machte Anstalten, den Leblosen hochzuzerren und in den Kofferraum zu hieven. Als er auf der Kante lag, konnte man das Gesicht des Opfers gut erkennen. Seine Glatze war frisch rasiert, die Augen waren geschlossen, der Mund war mit einem Haushaltstape überklebt, die Hände waren mit demselben Tape auf dem Rücken gefesselt. Dem Mühlriedl und der Holzmayerin liefen Schauer des Entsetzens den Rücken hinunter.
     
    Besonders unheimlich bei dem Glatzköpfigen war eine Markierung auf dem geschorenen Kopf. In Höhe der Ohrenspitzen lief rund um den ganzen Schädel eine gestrichelte Linie. Innerhalb des Kreises war ein Punkt gemalt, auf den ein Pfeil zeigte. Veronika Holzmayer versuchte sich diese beiden Details einzuprägen: Die seltsame Markierung auf der Glatze des Bewusstlosen und den um den Hals gehängten iPod, der in einer neongrünen Plastikhülle steckte. Das lenkte ein bisschen von der Angst ab, jedoch nicht lange, denn bald fiel ihr Blick auf ein neues beunruhigendes Detail. Es war hell genug, um den dunklen Fleck auf der Innenseite des linken Unterarms zu sehen. Die Verfärbung sah wie ein Brandfleck aus, der von einem Stromschlag herkommen mochte, vielleicht war es auch ein Bluterguss von einem unsauberen Nadeleinstich oder anderen Dingen, die man gar nicht so genau wissen wollte. Die Holzmayer Veronika versuchte sich auch diese Beobachtung für eine eventuelle spätere Zeugenaussage einzuprägen. Das hätte sie sich sparen können. Es sollte keine späteren Zeugenaussagen geben.
     
    Der leblose Körper wurde roh in den Kofferraum geworfen, der Deckel wurde zugeschlagen, die beiden Pudelmützen schrien und fuchtelten, sie schienen sich immer noch zu streiten. Der Mühlriedl und die Holzmayersche wurden nicht recht schlau aus den gutturalen stoßweise gepressten Zischlauten und fremdländischen Zungenschlägen. Irgendetwas Slawisches glaubte der Rudi herauszuhören. Dann ging alles ganz schnell, die Fremden stiegen in den Wagen und starteten ihn. Das überraschte insofern, weil man nicht vermutet hätte, dass sich inmitten der vielen Fahrzeugwracks auch ein quicklebendiges befand. Die Pudelmützen wendeten den Wagen und fuhren sehr, sehr leise davon. Ein Blitzstart mit quietschenden Reifen wäre nicht so beunruhigend gewesen wie dieses leise Wegfahren.
     
    Veronika
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