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Oberwasser

Oberwasser

Titel: Oberwasser
Autoren: Jörg Maurer
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Allgäuer aus Mindelheim, machte einen Schritt auf Maria zu, stolperte aber gleich über einen vorstehenden Teppichrand. Droben am Berg, in luftigen Höhen, in den heimatlichen Felswänden, bewegte er sich wie eine junge Gemse, in geschlossenen Räumen wirkte er hölzern und staksig. Stengele schnüffelte und verzog das Gesicht, der Geruch in dem ungelüfteten Raum gefiel ihm augenscheinlich nicht. Oder er konnte ihn nicht recht einordnen.
    »Uagnäm«
, sagte er, und es klang wie das Quaken eines Frosches.
    »Wie meinen Sie?«, fragte Nicole Schwattke, die hinter ihm hereingekommen war.
    »Unangenehm«, übersetzte Stengele frei aus dem Allgäuerischen. Die Recklinghäuser Austauschkommissarin war die jüngste Mitarbeiterin im Team. Sie sah sich beim Eintreten gar nicht erst im Raum um, ihr Blick tunnelte quer durch das muffige Gewusel und zielte sofort auf den wuchtigen Mahagonischreibtisch, der an der anderen Seite des Büros vor dem Fenster stand. Schweigend betrachtete sie das Holzgebirge und nickte nur stumm, so wie es die wortkargen Westfalen seit Jahrhunderten tun, wenn sie etwas Unbekanntes sehen. Als Letzter kam schließlich Hansjochen Becker, der Kriminaltechniker. Nach drei kurzen, insektenartigen Wischblicken kreuz und quer durch den Raum galt seine Aufmerksamkeit sofort dem weichen Teppich, den er aufmerksam betrachtete. Jennerwein schmunzelte. Offensichtlich war keinem der vier Ermittler das Nussholzgemetzel auf dem kleinen Schachtischchen aufgefallen. Es war auch nicht so wichtig. Es hatte vermutlich gar nichts zu bedeuten. Das Kernteam der Mordkommission  IV war komplett, ein bisschen verlegen stand es jetzt da, das kleine Rudel der vier weisungsgebundenen Betatiere, augenscheinlich auf das muntere Gebell des Leitwolfs wartend.
    »Nun denn«, sagte Jennerwein und drehte den Kopf in Richtung Schreibtisch.
     
    Der beeindruckende Mahagoniklotz war bis auf ein aufgeklapptes Notebook und einen blutroten Schnellhefter mit der Aufschrift
Streng vertraulich!
leer. Der Mann hinter dem Schreibtisch war stattlich, sein Äußeres sah gepflegt aus. Ein Telefon war unter dem wuchtigen Kinn eingeklemmt, seine Arme hingen neben den Lehnen des Stuhls herunter, seine blauen Augen waren weit geöffnet, so als wäre er erstaunt über das, was er da gerade gehört hatte. Sein grabsteingraues Haar saß glatt, wie gemeißelt, er trug einen sauber gestutzten Kinnbart, eine ultrakonservative Brille – zu einem Kneifer und einem Vatermörder fehlte nicht viel. Der tadellos sitzende Anzug war keinen Zentimeter verrutscht, die Schuhe, die man deshalb gut sah, weil der Mann auf dem Klappdrehschwenkstuhl mehr lag als saß, waren blitzblank. Jennerwein trat noch einen Schritt näher. Der Teint des Hünen war sonnengebräunt, man roch Rasierwasser, und Jennerwein wusste jetzt, warum Stengele gleich beim Eintreten geschnüffelt hatte. »Hm«, machte Maria und hob ihre ägyptisch dünnspitze Nase etwas hoch. »Äußerst interessant.«
     
    Plötzlich ließ der gepflegte Mann das Telefon vom Kinn gleiten und fing es mit der Hand geschickt auf. Der Liegelümmelstuhl drehte sich quietschend, so dass der Mann seinen fünf Besuchern frontal gegenüber saß.
    »Entschuldigen Sie«, sagte er und legte das Telefon auf den Tisch. »Ein wichtiges Gespräch.«
    Alle nickten verständnisvoll. Jennerwein ging auf den Mann zu und schüttelte ihm über das Mahagoni hinweg die Hand.
    »Aber setzen Sie sich doch bitte, meine Herrschaften«, sagte Dr. Rosenberger. »Kaffee? Tee? Wein? Bier?«
    »Ein Kaviarbrötchen«, scherzte Maria. Der gepflegte Mann war Polizeioberrat Dr. Rosenberger, der Vorgesetzte von Kommissar Jennerwein. Er lachte höflich und verschränkte seine Hände auf der Platte des Edelholzschreibtischs. Alle starrten auf die Intarsien, mit denen der Tisch an der Vorderseite verziert war. Eine exzentrische Weise, sich Distanz zu verschaffen, dachte Jennerwein. Infantile Fixierung auf Reviermarkierung, Angst vor Machtverlust, dachte Maria. Ein wunderbares Holz, um viele, viele verwertbare Spuren zu hinterlassen, dachte Becker. G’spinnerter Hirni, dachte Stengele, der hockt wahrscheinlich den ganzen Tag hinter diesem toten Holzklotz und weiß dabei gar nicht mehr, wie man Handschellen anlegt. Nicole Schwattke machte sich als Einzige keine Gedanken über den Tisch. Sie starrte in eine andere Ecke des Raums.
    »Das sieht aber gar nicht gut aus für Schwarz«, sagte sie.

4 .
    Seine Hand krallte sich an einem scharfkantigen Stein
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