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Oberst Chabert (German Edition)

Oberst Chabert (German Edition)

Titel: Oberst Chabert (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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zwischen meinem Kopfe und dem wirren Haufen Menschenfleisch über mir. Nun kann ich diese Entfernung ausmessen, die man aus mir unbekannten Gründen frei gelassen hatte. Dank der Unbekümmertheit, mit der man uns in aller Eile wie Kraut und Rüben herabgeschaufelt hatte, hatten sich zwei menschliche Körper über mir gekreuzt in der Weise, wie es Kartenblätter tun, aus denen sich ein Kind ein Schloß baut. In aller Hast fahre ich mit meinen Händen um mich und finde zum Glück einen abgehauenen Arm, einen Heraklesarm, eine riesige Gliedmasse, der ich mein Dasein verdanke. Denn ohne diese unerhoffte Hilfe wäre ich zugrunde gegangen. Aber mit einer Wut, die Sie verstehen werden, machte ich mich daran, die Leichname, die sich zwischen uns und der Erdschicht befanden, ich sage uns, als ob's noch einen Lebenden außer mir gegeben hätte, mit möglichster Schnelle fortzuräumen. Ich ging fest darauf los, denn – ich lebe noch, mein Herr. Weiß ich, wie ich's fertigbrachte, die Schicht aus Menschenfleisch zu durchbrechen, die zwischen mir und der Oberwelt lag? Sie werden sagen, drei Arme sind etwas. Und diesem Hebel aus Fleisch und Blut, den ich mit allem Raffinement handhabte, verdankte ich immer etwas Luft, die zwischen den Kadavern angesammelt war. Ich sparte mit jedem. Atemzug. Endlich sehe ich den Tag! Aber überall Schnee. Jetzt erst merkte ich meine offene Wunde. Zum Glück hatte sich mein eigen Blut oder das meiner Kameraden oder die Haut meines armen Pferdes, was weiß ich, durch die Gerinnung in ein natürliches Schutzpflaster verwandelt. Trotz dieses Schutzes fiel ich in Ohnmacht, kaum daß mein Schädel den Schnee berührt hatte. Indessen konnte doch das wenige an Wärme, das ich noch in mir hatte, den Schnee zum Schmelzen bringen rings um mich, und ich fand mich, als ich wieder zu Bewußtsein kam, in der Mitte einer kleinen Erdgrube. Nun schrie ich aus Leibeskräften, solange ich nur konnte. Aber als die Sonne stieg und doch alles schwieg, hatte ich also kaum Aussichten, daß mich einer hörte. Gab es überhaupt Menschen auf dem öden Felde? Ich richtete mich auf, indem ich meine Füße auf den Rücken der Toten unter mir stützte, die kräftige Körper hatten. Sie verstehen, es war nicht der Augenblick, ihnen zu sagen: Achtung dem Mutigen, den Unglücklichen! Kurz, mein lieber Herr, ich mußte zu meinem Schmerz oder besser zu meiner Wut sehen, wie diese gottverdammten Deutschen lange – lange genug, glauben Sie es mir – ausrissen, da sie eine Stimme hörten und keinen Menschen sahen, endlich aber ward ich befreit von einer Frau, sie war so mutig oder so von Neugierde geplagt, daß sie sich meinem Kopfe näherte, der nicht anders wie ein Pilz aus der Erde geschossen war. Die Frau holte sofort ihren Mann herbei, beide trugen mich in ihre arme Hütte. Wie es scheint, hatte ich einen neuen Anfall des Dämmerzustandes, gestatten Sie diesen Ausdruck, um Ihnen einen Zustand zu schildern, von dem ich zwar keine rechte Ahnung habe, der aber nach den Berichten meiner Wirtsleute eine Folge meiner Krankheit gewesen sein muß. Sechs Monate zwischen Leben und Tod. Ich sprach nicht oder redete irre. Endlich brachten mich die Leute ins Hospital zu Heilsberg. Begreifen Sie, mein Herr, aus dem Grabe war ich aufgestiegen, nackt, wie aus dem Mutterleibe. Und als ich eines schönen Morgens, sechs Monate nachher, mich erinnerte: Ich bin der Oberst Chabert, und ich habe meinen Verstand wieder! und als ich dann von meinem Wärter mehr Respekt forderte, als er einem armen Teufel zubilligen mochte – brachen in diesem Augenblick alle Zimmergenossen in ein tolles Gelächter aus. Zum Glück für mich war der Arzt persönlich für meine Genesung eingestanden und hatte sich, schon aus Eigenliebe, für seinen ›Fall‹ interessiert. Als ich nun in Verfolg meines früheren Daseins zu sprechen begann, da ließ der brave Mann, Sparchmann heißt er, in den Formen des üblichen Landesrechtes feststellen, auf welche wunderbare Weise ich aus der Totengrube gestiegen, wann, Stunde und Tag, mich meine Wohltäter gefunden, ihr Name, ferner Art und genaue Lage meiner Wunden, hierzu verschiedene Protokolle, Verhöre und eine exakte Personalbeschreibung. Nun sehen Sie, lieber Herr, ich besitze weder diese wichtigen Schriftstücke noch die Erklärung, die ich bei dem Notar von Heilsberg abgegeben habe, um meine Identität festzustellen. Denn seit dem Tage, da ich aus dieser Stadt infolge der Ereignisse des Krieges vertrieben ward, bin ich
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