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Oberst Chabert (German Edition)

Oberst Chabert (German Edition)

Titel: Oberst Chabert (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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Szene stellt als Musterblättchen einen von tausend Freudentagen dar, über die man später, in Erinnerung an die schöne Jugend sagen wird: War das eine herrliche Zeit!
    Gegen ein Uhr morgens pochte der angebliche Oberst Chabert an die Tür des Maître Derville, Rechtsanwalts am Tribunal der ersten Instanz des Seine-Departements. Der Pförtner antwortete, Herr Derville sei noch nicht zurück. Der Greis berief sich auf die zugesagte Zusammenkunft und stieg die Treppe zu dem berühmten Rechtskundigen empor, der trotz seiner Jugend für den hervorragendsten Juristen des Gerichtshofes galt. Der mißtrauische Bittsteller schellte und war dann nicht wenig erstaunt, als er sah, wie der Bureauvorstand auf der Tafel des Speisesaales seines Chefs die zahlreichen Aktenbündel in eben der Reihe ordnete, in der sie morgen »darankommen« sollten. Nicht weniger erstaunt war der Angestellte, aber er grüßte höflich und bat den Alten Platz zu nehmen, was dieser auch tat.
    »Meiner Treu, lieber Herr, ich hatte schon gedacht, daß Sie einen Scherz gemacht haben, als Sie mir gestern eine so frühe Stunde für die Konsultation bestimmten«, sagte der Alte mit dem falschen Humor eines zugrunde gerichteten Mannes, der sich mit Gewalt zu einem Lächeln zwingen will.
    »Es war ein Scherz der Schreiber und doch die Wahrheit«, sagte der Vorstand, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Herr Derville hat diese Stunde gewählt, um Prozesse zu prüfen, Möglichkeiten zu erwägen, Zug um Zug alles vorzuschreiben und die Verteidigung zu entwerfen. Seine außerordentliche Klugheit entfaltet sich nie freier als in diesem Augenblick, dem einzigen, der ihm diese völlige Ruhe gewährleistet, die nötig ist, wenn man auf geniale Eingebungen kommen soll. Sie sind, mein Herr, seitdem er Anwalt ist, erst der dritte Klient, dem er Konsultation zu nächtlicher Stunde zugesteht. Nach seiner Rückkunft wird nun der Chef jede Angelegenheit durchsprechen, alles aktenmäßig überlesen und so drei oder vier Stunden an die Sachen wenden. Dann wird er mir ein Klingelzeichen geben und mir seine Absichten auseinandersetzen. Von morgens zehn bis zwei Uhr nachmittags empfängt er seine Klienten, den Rest des Tages verwendet er auf seine Zusammenkünfte. Abends geht er in Gesellschaft, denn er hat große Verbindungen aufrechtzuerhalten. Er hat also nur die Nacht für sich, um die Prozesse zu durchleuchten, die Arsenale der Gesetzbücher zu durchstöbern und seine Schlachtenpläne zu entwerfen. Er will keinen Prozeß verlieren. Denn er liebt seine Kunst. Er übernimmt nicht, wie viele seiner Kollegen, jede Art von Prozeßangelegenheit. Dies ist sein Leben, das Dasein eines außergewöhnlich tätigen Geistes. Auch verdient er viel Geld.«
    Schweigend hörte der Alte diese Auseinandersetzung an, und sein sonderbares Gesicht bekam einen so stupiden Ausdruck, daß der Vorstand, nach einem prüfenden Blick, sich keinen Augenblick länger um ihn kümmerte.
    Bald trat Derville ein, in Gesellschaftskleidung. Der junge Advokat blieb einen Moment starr, als er im Halbdunkel den sonderbaren, seltsamen Gast warten sah. Der Oberst Chabert stand stramm und steif wie eine Figur aus Wachs im Kabinett Curtius, dort, wohin Godeschal seine Kollegen hatte führen wollen. Man hätte sich über seine Unbeweglichkeit nicht weiter aufgeregt, hätte nicht ohnehin sein Anblick wie der eines Menschen aus einer anderen Welt gewirkt. Der alte Soldat war dürr und mager. Seine Stirn, mit Absicht unter der glatt anliegenden Perücke verborgen, gab ihm einen Hauch von Geheimnis. Die Augen schienen mit einem feinen Schleier bedeckt, als hätte sich ein trübes Perlmutterhäutchen darüber gelegt, worin sich bläulich die Reflexe der Kerzen spiegelten. Das Gesicht bläulichblaß, scharf wie eine Messerschneide und, wenn man den banalen Ausdruck nicht scheut, bei lebendem Leibe tot. Der Hals war eingeschnürt von einer schmierigen schwarzseidenen Kravatte. Und der Schatten barg so kräftig den Körper unterhalb dieser Linie, die das dunkle Tuch gezogen hatte, daß ein Mensch mit ein wenig Phantasie diese Erscheinung für einen Schattenriß, von ungefähr an die Wand geworfen, hätte halten können oder für ein Gemälde von Rembrandt ohne Rahmen. Die Ränder des Hutes, der die Stirn des Alten deckte, warfen einen breiten, schwarzen Streifen auf das Antlitz.
    Ein eigentümliches, obgleich ganz natürliches Spiel von Licht und Schatten, ließ in strengen Gegensätzen die weißen Falten und Furchen, die
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