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Oberst Chabert (German Edition)

Oberst Chabert (German Edition)

Titel: Oberst Chabert (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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Gebärde, »besser ist's, sich in seinen Gefühlen Luxus zu erlauben als in seinen Kleidern. Ich fürchte keines Menschen Tadel mehr.«
    Der Oberst setzte sich wieder auf seine Bank. Derville ging. Als er in sein Bureau kam, sandte er Godeschal (damals war er zweiter Schreiber) zur Gräfin Ferraud, die, nachdem sie das Billett gelesen, unverzüglich den geschuldeten Betrag an Derville auszahlen ließ.
    Gegen Ende des Monats Juni des Jahres 1840 kam einmal Godeschal (zur Zeit Anwalt) nach Ris, und zwar in Gesellschaft Dervilles, seines Vorgängers. Als sie an die Straße kamen, die von der Chaussee nach Bicêtre, dem Irrenhaus von Paris, abzweigt, bemerkten sie im Schatten einer Esche einen armen, alten, ganz verkommenen Mann, einen aus der Zahl derer, die das große Los der Bettler gezogen haben und in Bicêtre wohnen, während die armen Frauen in der Salpetrière ihr Unterkommen gefunden haben. Dieser Mann, einer der zweitausend Insassen des Altersasyles, saß auf einem Meilenstein, und sein ganzer Verstand schien einzig darauf konzentriert, eine unter den Invaliden wohlbekannte Kunst zu üben, nämlich den Tabak im Schnupftuche an der Sonne zu trocknen, vielleicht um die Wäschereiunkosten zu sparen. Bekleidet war der Greis mit der fuchsigen Gewandung, die das Hospiz seinen Insassen gibt als schreckliche Livree der Armut.
    »Sehen Sie doch, Derville,« sagte Godeschal zu seinem Reisebegleiter, »sehen Sie doch diesen Alten da. Ähnelt er nicht den Spukgestalten, wie sie uns aus deutschen Büchern kommen? Und doch lebt so was und ist schließlich glücklicher als wir.« Derville nahm sein Lorgnon, betrachtete den Armen, ließ sich einen Laut der Überraschung entschlüpfen und sagte: »Mein Lieber, dieser Alte ist ein ganzes Heldengedicht oder, wie die Romantiker es nennen, ein Drama. Bist du je der Gräfin Ferraud begegnet?«
    »Gewiß. Sie ist eine Frau von Geist und sehr angenehm, nur gar zu sehr Frömmlerin.«
    »Dieser alte Armenhäusler ist ihr legitimer Gatte, Graf Chabert, ehemaliger Oberst, und zweifelsohne war sie es, die ihn hergebracht hat. Wenn er im Armenhause wohnt, statt in einem Palais, so ist es einzig und allein deshalb, weil er die hübsche Gräfin daran erinnert hat, daß er sie einmal, wie einen Fiaker, an öffentlichem Ort aufgenommen hat. Noch erinnere ich mich des Furienblicks, den sie ihm zugeschleudert hat.«
    Da dieser Anfang Godeschals Neugierde erregt hatte, erzählte ihm Derville den ganzen Roman. Zwei Tage nachher, Montag morgens, kehrten die zwei Freunde wieder nach Paris zurück. Am Wege warfen sie einen Blick nach Bicêtre, und Derville schlug vor, den Obersten aufzusuchen. In der Mitte des Weges trafen die Anwälte den Obersten, auf einem Baumstumpf sitzend. Er hielt einen Stock in der Hand und zeichnete Runen in den Sand. Als sie ihn genau ansahen, konnte es ihnen nicht entgehen, daß er anderswo als in der Anstalt sein Frühstück genommen.
    »Guten Tag, Oberst Chabert!« sagte Derville.
    »Nichts mehr von Chabert, kein Chabert mehr! heiße Hyacinth«, antwortete der Greis. »Bin kein Mensch mehr, nur die Numero 164, Saal 7.« Dabei sah er Derville mit ängstlichem Ausdruck an, mit der Furcht eines hilflosen Kindes oder Greises. »Sie wollen den zum Tod verurteilten Mann sehen?« sagte er nach einer Pause. »Er ist nicht verheiratet. Er ist glücklich.«
    »Armer Kerl«, sagte Godeschal. »Wollen Sie etwas Geld für Tabak?«
    Mit der ganzen schelmischen Naivität eines Pariser Gassenjungen streckte der Oberst eifrig seine Hände den zwei Unbekannten hin. Sie gaben ihm jeder ein Zwanzigfrankenstück, er dankte mit stumpfem Blick und murmelte: »Feine Kerle!« Er spielte Soldat, machte Griffe an einem imaginären Gewehr, und zum Schluß schrie er lachend: »Feuer aus zwei Stücken! Los! Hoch Napoleon!« Und mit seinem Stock zog er eine wundervolle Arabeske in die Luft.
    »Die Art seiner Verwundung hat ihn zum Kind gemacht«, meinte Derville.
    »Der – ein Kind?« rief ein alter Armenhäusler, der zugesehen hatte. »Er hat seine Tage, an denen man ihm besser nicht auf die Hühneraugen tritt. Er ist ein alter Fuchs, hat Verstand und Phantasie für tausend. Aber heute, was wollen Sie, hat er seinen blauen Montag. Sehen Sie, mein werter Herr, im Jahre 1820 war er schon hier. Nun, da kam ein preußischer Offizier, dessen Kalesche den Berg von Villejuif hinauffuhr, zu Fuß hier vorbei. Dieser Offizier plauderte im Gehen mit einem andern, einem Russen oder einem ähnlichen Monstrum
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