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Oberst Chabert (German Edition)

Oberst Chabert (German Edition)

Titel: Oberst Chabert (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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dürfen. Aber, fällt einmal ein Individuum in die Hände der Justiz, so ist es kein Mensch mehr, nur eine anonyme Person, eine Tatbestandsfrage, eine Rechtsfrage, so wie er in den Augen eines Statistikers zu einer bloßen Ziffer gesunken ist.
    Als der alte Soldat in die Kanzlei zurückgeführt wurde, um dann später mit einer Horde Vagabunden, die man gerade aburteilte, abtransportiert zu werden, machte Derville von seinem Rechte Gebrauch, als Anwalt überall im Justizpalast frei ein- und auszugehen, er begleitete ihn daher nach der Kanzlei und sah sich ihn aus der Nähe an, ebenso die sonderbaren Bettlergestalten, unter denen er sich befand. Das Vorzimmer der Kanzlei bot in diesem Augenblick ein Schauspiel, das leider weder die Gesetzgeber, noch die Menschenfreunde, noch die Dichter genügend kennen. Wie alle Brutstätten der Schikane, so ist auch dieses Vorzimmer ein dunkler und übelriechender Raum, an dessen Wänden sich schwarz gewordene Holzbänke hinziehen; sie sind abgenutzt durch das ewige Kommen und Gehen der armen Teufel, die sich hier treffen, um jeder Spezies menschlichen Elends ein Stelldichein zu geben, bei dem keiner fehlen mag. Ein Dichter würde sagen, daß das Licht sich schämt, in diesen widerwärtigen Winkel zu leuchten, durch den tausend unselige Menschen hindurchgegangen sind. Und so gibt es nicht ein Fleckchen hier, wo nicht ein geplantes oder begonnenes Verbrechen seinen Platz gefunden hat, keine Stelle, wo nicht ein Mensch, durch die erste, kleine Schramme der gerichtlichen Strafe angeritzt, eine Laufbahn begonnen, die unweigerlich zum Schafott oder zum Selbstmord führen mußte. Was in Paris unter die Räder gerät, hier brandet es gegen die schimmligen Mauern an, und aus tausend unsichtbaren Lettern müßte ein Freund des Menschengeschlechtes die Motive von ebensoviel Selbstmorden entziffern, über welche heuchlerische Schriftsteller falsche Klage führen, ohne nur den kleinsten Schritt dagegen tun zu wollen. Was sich auf diesen Mauern geschrieben zeigt, ist das Vorwort zu den Dramen des Richtplatzes und zu den Schauern der Morgue.
    Jetzt saß der Oberst Chabert unter diesen willensharten Missetätern, die sich mit der schrecklichen Livree des Jammers eingekleidet hatten. Bald schwiegen sie, bald unterhielten sie sich in gedämpftem Ton, denn drei Gendarmen im Dienst gingen hin und wieder, und ihre langen Säbel klirrten über das Pflaster des Korridors.
    »Nun, erkennen Sie mich?« sagte Derville zu dem alten Soldaten und stellte sich hinter ihn.
    »Gewiß, mein Herr«, antwortete Chabert und stand auf.
    »Nun, wenn Sie ein Ehrenmann sind, wie können Sie in meiner Schuld bleiben?«
    Der alte Krieger errötete wie ein junges Mädchen, das die Mutter wegen heimlicher Zusammenkünfte aushorcht.
    »Wie? Frau Ferraud hat Sie nicht bezahlt?« schrie er laut.
    »Bezahlt?« sagte Derville. »Sie hat mir geschrieben, Sie seien ein Betrüger.«
    Der Oberst hob seine Augen. Wunderbar war diese Geste des Erschreckens und der Verwünschung, als wolle er den Himmel anrufen zum Zeugen dieses neuen Betrugs. »Mein Herr,« sagte er und dämpfte mit Gewalt seine Stimme herab, »verlangen Sie von den Gendarmen die Gefälligkeit, daß ich in die Kanzlei eintreten darf, und ich will Ihnen ein Mandat unterschreiben, auf das Sie sicherlich bezahlt werden.«
    Derville gab dem Unteroffizier einen Wink, und es wurde ihm erlaubt, seinen Klienten in die Kanzlei zu führen, wo Hyacinth ein paar Zeilen an die Gräfin Ferraud schrieb.
    »Schicken Sie diesen Brief an sie, und Sie sollen alles zurückerhalten, Vorschüsse und Spesen. Glauben Sie mir, mein Herr, wenn ich Ihnen meine Dankbarkeit noch nicht bezeugt habe, wie ich sie Ihnen für Ihre guten Dienste schulde, die Dankbarkeit ist um nichts weniger da«, und er legte seine Hand auf die Brust. »Ja, sie ist hier, voll und ganz. Aber was vermögen die Unglücklichen. Sie lieben, das ist alles.«
    »Wie kann das sein,« fragte Derville, »haben Sie denn keine Rente mit ihr ausgemacht?«
    »Ach, sprechen Sie mir nicht davon!« antwortete der alte Militär. »Meinen Widerwillen gegen die Äußerlichkeiten des Lebens können Sie nicht ermessen. Die andern mögen diese Dinge interessieren, ich aber habe eine Krankheit acquiriert, sie heißt: Ekel vor allem, was wie ein Mensch aussieht. Denke ich an Napoleon auf Sankt Helena, so ist mir alles hier unten gleich. Ich kann nicht mehr dienen, das ist mein Unglück. Schließlich,« setzte er hinzu mit einer kindlichen
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