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Oberst Chabert (German Edition)

Oberst Chabert (German Edition)

Titel: Oberst Chabert (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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Zartes zu geben, und um jedes Wort einen Mantel von Melancholie und Wehmut zu breiten, und dabei doch ihre Würde nie zu vergessen. Sie ließ die Liebe wieder aufleben, ohne die Begier zu wecken, ließ den ersten Gatten alle seelischen Schätze sehen, die sie inzwischen erworben, und ihr einziger Wunsch schien, ihn daran zu gewöhnen, er möge sein Glück darin suchen, in ihr die geliebte und liebende Tochter zu sehen. Der Graf hatte eine Gräfin des Kaiserreichs verlassen, er fand eine Gräfin der Restaurationszeit in ihr wieder. Endlich kamen die Gatten quer durchs Gelände auf einen schmaleren Weg, und dann zu einem mächtigen Park, tief in dem kleinen Tal, das die Hügel von Margency von dem hübschen Städtchen Groslay trennt. Die Gräfin besaß hier ein wundervolles Haus, in dem der Graf. als er ankam, alle Vorbereitungen für sich und für sie getroffen fand. Das Unglück ist ein Talisman, der die natürlichen Kräfte unserer Seele verstärkt. Er erhöht die Bosheit und das Übelwollen bei den Bösen, bei den Guten aber steigert er den Edelgehalt der reinen Herzen. Das schlimme Geschick hatte den Obersten noch mehr hilfsbereit und gütig gemacht, als ers gewesen, er konnte daher tiefer in die Falten einer leidenden Frauenseele dringen, als sonst die Männer meist. Und doch, so wenig mißtrauisch er war, konnte er einen Gedanken nicht unterdrücken: »Sie waren also sicher, mich hierher mitzubekommen?«
    »Ja,« sagte sie, »wenn es der Oberst Chabert war, der mir als Kläger gegenüberstand.«
    Sie wußte dieser Antwort allen Schein der Wahrheit zu geben, und so verscheuchte sie das leise Mißtrauen, dessen sich der Oberst jetzt sogar schämte. Während der ersten drei Tage war die Gräfin bezaubernd und anbetungswert gegen ihren ersten Mann. Zarte Vorsorge, immerwährende Freundlichkeit waren ihre Mittel, alle Spuren von Kummer auszulöschen, so wollte sie die Verzeihung für alles Schwere erbitten, das, nach ihrem Geständnis, ohne böse Absicht, durch sie über ihn gekommen war. Sie entfaltete für ihn, ohne den Schleier von Melancholie zu heben, der alles umgab, unbeschreiblichen Reiz, dem er, wie sie ihn kannte, nicht zu widerstehen vermochte. Denn wir können alle in gewissen Dingen nicht widerstehen, es gibt eine Art Herzenstakt oder geistige Grazie, gegen die wir machtlos sind. Er mußte Anteil an ihrem Geschick nehmen, sie wollte ihn ganz weich, ganz ihren Wünschen gefügig, um rücksichtslos über ihn herrschen, mit ihm schalten und walten zu können. Sie war zu allem entschlossen, ihr Ziel mußte sie erreichen, sie wußte noch nicht, was sie aus diesem Menschen machen wollte, aber aus der Gesellschaft sollte und mußte er verschwinden und ausgelöscht werden für immer. Am Abend des dritten Tags fühlte sie, daß sie, aller Anstrengung ungeachtet, nicht die Unruhe verbergen konnte, die sie diese fragwürdigen Schleichwege kosteten. Sie wollte sich einen Augenblick lang erholen und stieg zu ihren Zimmern herauf, setzte sich an den Schreibtisch. Jetzt warf sie die Maske der Ruhe und der Freundlichkeit ab, die sie vor Chabert trug, nun glich sie einer Komödiantin, die todmüde nach einem schweren fünften Akt sich in ihre Garderobe schleppt, wie leblos niedersinkt. Noch lebt sie im Publikum unter einem Bilde weiter, das sie selbst nicht mehr ist. Schnell beendete sie ein Schreiben an Delbecq, worin sie ihn aufforderte, in ihrem Namen zu Derville zu gehen, sich alle Akten, die den Oberst Chabert betrafen, zur Kopierung vorlegen zu lassen und dann sofort nach Groslay zu kommen. Kaum hatte sie den Brief beendigt, als sie auf dem Korridor den Schritt des Obersten hörte, welcher, unruhig geworden, sie aufsuchte.
    »Mein Gott,« sagte sie laut, »ich möchte sterben. Wer kann so weiterleben...«
    »Aber nein, was haben Sie?« fragte der gute Mann.
    »Ach nichts.«
    Sie stand auf, ließ den Obersten allein und ging herab, um ungestört mit ihrer Kammerfrau sprechen zu können. Sie schickte sie nach Paris und gab ihr den Brief an Delbecq mit, den sie eben geschrieben und der nach der Lektüre wieder abzuliefern war. Dann setzte sie sich auf eine Bank, wo sie der Oberst sehen konnte. Und in der Tat suchte er sie bereits, eilte herbei und setzte sich zu ihr.
    »Rosine,« sagte er, »was haben Sie?«
    Sie antwortete nicht. Der Abend war wundervoll ruhig. Er strömte eine himmlische Ruhe aus, die Luft der Juninacht war süß und rein, tief das Schweigen ringsum, ferne konnte man im Park die Stimmen von Kindern
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