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Oben ohne

Oben ohne

Titel: Oben ohne
Autoren: Evelyn Heeg
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einfach darunter hindurchfahren kann. Zum Glück habe ich daran gedacht, das Handy in eine Tüte zu packen. Verdammt nochmal, wer könnte mich anrufen? Mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Ich dränge es wieder zur Seite, denn egal, was es ist: Ich kann es im Moment nicht ändern. Ich bin noch vierzig Kilometer und einige Höhenmeter von zu Hause entfernt. Dafür fühle ich mich aber noch erstaunlich gut.
    Viel schneller als erwartet erreiche ich die vorletzte Verpflegungsstelle auf einer Lichtung beim Knöpflesbrunnen, einem Gasthaus mitten im Schwarzwald. Schon von weitem erkenne ich Tino. Er steht da und ist kräftig am Kauen. Vermutlich hat er sich ganz schön ausgepowert. Typisch für ihn, er kann sich viel besser quälen als ich. Allerdings teilt er sich die Strecke noch deutlich besser ein als die meisten, denn seit zwei Stunden bin ich quasi nur noch am Überholen, und das geht jetzt auch so weiter. Tino hat mich entdeckt und winkt mir zu. Ich bremse ab: »Alles klar?«
    »Gerade etwas schlapp«, sagt er und grinst.
    Ich versorge mich kurz, und wir machen uns gemeinsam wieder auf den Weg. In dem Moment kommt die nächste SMS.
    »Mein Handy klingelt schon die ganze Zeit.«
    »Wer will was von dir?«
    In dem Moment wird es mir sonnenklar.
    »Ich glaube, es stimmt etwas mit Oma nicht.«
    »Meinst du wirklich?«
    Tino ist gerade ganz schön am Leiden. Das kenne ich, das dauert jetzt noch einige Minuten, bis die Verpflegung in seiner Blutbahn angelangt ist, und dann legt er los zum Schlussspurt. Bei ihm kam gar nicht richtig an, was ich gerade gesagt habe. Ist auch nicht so einfach, bei Puls hundertsiebzig noch klar zu denken. Aber so ist es: Es hat mit Oma zu tun. Es erübrigt sich zu sagen, dass es keine positiven Nachrichten sein werden. Was mache ich jetzt? Wenn ich das Rennen hier abbreche, könnte ich über den Schauinsland zurückfahren. Das würde mir eine halbe Stunde sparen. Aber dann bin ich in Freiburg, Tino wäre noch in Kirchzarten. Und dann, was hätte Oma davon? Das bringt irgendwie auch nichts. Ich fahre es einfach zu Ende. Nach und nach entsteht die Gewissheit, dass Oma sich genau das wünschen würde – dass ich das Rennen zu Ende fahre. Für sie. Ich kämpfe mit den Tränen. Im Hals sitzt ein dicker Kloß. Nichtsdestotrotz: Ich fahre das Ding vollends für Oma. Das hätte sie so gewollt, da bin ich mir plötzlich sicher.
    Wir erreichen den Notschrei, eine Passhöhe zwischen Schauinsland und Stübenwasen. Hier kommen jetzt ein paar fiese Gegenanstiege. Sie sind vor allem deshalb fies, weil man schon über neunzig Kilometer in den Beinen hat. Heute kann ich erstaunlich viel Kraft mobilisieren. Das Ziel ist jetzt ganz klar: so schnell wie möglich nach Kirchzarten. Tino ist aber noch deutlich schneller, denn das kann er besonders gut, solche kleinen Stiche wegdrücken. Ich verliere ihn wieder aus den Augen.
    Nun geht es über die Straße, Polizisten regeln hier den Verkehr, die Autofahrer müssen anhalten, sobald ein Biker auftaucht. Ich rausche über das Asphaltband, tauche auf der anderen Seite wieder ein in den Wald und rase geradeaus bergab. Auf einem ebenen Zwischenstück habe ich wunderschöne Ausblicke. Ich muss die ganze Zeit an Oma denken. Und trotzdem: Ich fahre weiter, sie würde es nicht anders wollen.
    An der letzten Verpflegungsstation schnappe ich mir einen Becher Cola. Gleich geht es nochmal über eine steile Wiese hinauf. Zucker und Koffein helfen vielleicht, zumindest psychologisch. Ich merke ein Ziehen im Oberschenkel. Jetzt bloß keine Krämpfe. Da hätte ich keinen Bock drauf. Ich schalte einen Gang runter und trete mit weniger Kraft. Die Muskeln entspannen sich etwas. Ich konzentriere mich voll auf den Weg. Geschafft, ich bin oben. Nicht, dass das der letzte kurze Anstieg gewesen wäre, aber zumindest diesen habe ich bewältigt.
    Eine knappe halbe Stunde später erreiche ich Kirchzarten. Aber es stellt sich keine ausgelassene Freude ein. Ich biege ins Stadion ein, noch eine halbe Runde auf der Tartanbahn. Direkt hinter der Ziellinie erwartet mich schon Tino.
    »Phantastisch, du hat eine Zeit knapp über sechs Stunden!«
    Ach, meine Zeit, die ist mir gerade völlig egal. Ich habe noch nicht mal gemerkt, dass ich so gut gefahren bin wie noch nie in meinem Leben. Tino merkt ziemlich schnell, dass mir danach nicht der Sinn steht.
    »Was ist los mit Oma?«
    Ich kann nicht reden, und schüttele nur den Kopf, um nicht in Tränen auszubrechen.
    Ich weiß gar nicht, was ich hier
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