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Oben ohne

Oben ohne

Titel: Oben ohne
Autoren: Evelyn Heeg
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wenigen Minuten ist, mir den Mantel zu holen. Trotzdem hätte ich es gerne selbst gemacht. Ich sage ihm kurz Bescheid, verziehe mich wieder aufs Sofa und versuche, die Tränen herunterzuschlucken. Das ist doch echt kein Grund, denke ich. Aber es hilft nichts. Die Summe der Teile ist zu viel: die zermürbenden Schmerzen, die Hilflosigkeit, das zähe Warten darauf, dass alles besser wird.
    »Sollen wir denn überhaupt zu Oma fahren?«
    Tino steht in der Wohnzimmertür.
    Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Er sieht mich traurig an. Er weiß, dass ich gerade sehr leide, wir haben immer wieder darüber gesprochen. Aber er kann mir nicht helfen.
    »Heute können wir sowieso nichts machen. Ich nehme gleich noch eine Tablette, und dann ist es besser, abgelenkt zu sein, als sinnlos auf dem Sofa zu liegen. Hier wird der Tag mit den Schmerzen zur Ewigkeit. Es sind auch weniger die Schmerzen, die mich belasten. Es ist mehr die Angst, dass sie nicht mehr weggehen. Außerdem freue ich mich auf Oma.« Wir werden beim Autofahren sicherlich ab und zu anhalten müssen. Aber das ist für Tino in Ordnung. Er zuckt mit den Schultern: »Letztlich musst du das entscheiden.«
    »Wir fahren.« Ich stehe auf. »Hilfst du mir mit dem Mantel?«
    »Klaro.«
    »Ich mach mich schon mal auf den Weg nach unten zum Auto. Denkst du an die Tüte mit den Geschenken?«
    Tino erledigt noch ein paar Dinge in der Wohnung. Ich gehe Stufe für Stufe die fünf Stockwerke nach unten. Das Ziel ist dabei, möglichst wenig Erschütterungen zu verursachen. Im Auto stelle ich den Sitz so waagrecht wie möglich. Das ist gar nicht so schlecht. Es ist eine entspannte Position, und trotzdem kann ich die Landschaft an mir vorbeiziehen sehen. Jetzt könnte es ruhig winterlich verschneit sein, aber das war es immer nur in München. Hier in Freiburg ist nichts von der weißen Pracht zu sehen. Auch im Schwarzwald liegt nichts, was eigentlich auch besser so ist: Ich würde mich sonst ärgern, weil ich im Augenblick nicht zum Langlaufen gehen kann.
    In Stuttgart erwartet uns Oma an der Haustür. Es ist wie immer. Nur dass ich heute deutlich langsamer bei ihr oben bin. Sie nimmt mich vorsichtig in den Arm: »Was machen die Schmerzen?«
    »Die sind noch nicht weg. Sind Anette und Jörg schon da?«
    »Nein, ihr seid die Ersten. Legt ab, wir gehen einfach schon mal nach oben. Ich habe das Sofa für dich ausgezogen, damit du richtig liegen kannst.«
    Im Wohnzimmer werde ich von Oma sofort aufs mächtige Sofa verfrachtet und liebevoll mit einer Decke zugedeckt. Wahrscheinlich wird das mein erster Besuch hier, nach dem ich mit warmen Füßen nach Hause fahre. Es ist schön, so umsorgt zu werden, aber es macht mich auch etwas traurig. Irgendwie habe ich das Gefühl, das jetzt nicht zeigen zu dürfen. Ich befürchte, dass Oma sich dann noch mehr Sorgen machen würde. Sie war schon im Vorfeld skeptisch wegen dieses Besuchs.
    Kurze Zeit später treffen meine Geschwister ein. Jetzt wird es richtig eng am Couchtisch, aber Oma nimmt das gleich in die Hand: »Anette, du gehst zu Evelyn auf die Couch!« Anette legt sich meine Füße auf ihren Schoß und kuschelt sich ebenfalls unter die Decke. Es ist eine ungewohnte Rolle, die ich hier habe, so als passive Rekonvaleszentin. Ich bin froh, als es kurz darauf Mittagessen gibt, denn da sitzen wir einfach alle am Tisch, und ich fühle mich nicht ständig so krank. Der Tag verläuft ansonsten sehr harmonisch, wenn man mal von der musikalischen Einlage auf dem völlig verstimmten Klavier im Wohnzimmer absieht. Aber die hatte dafür ihren ganz eigenen Charme. Oma erzählt zwischendurch von ihren beiden Reisen, die in den nächsten Monaten bevorstehen, denn neben der Mandelblüte in Mallorca wird sie ja zunächst auch noch mit dem Glacier-Express durch die Schweizer Berge kurven. Nach dem Kaffeetrinken machen wir uns startklar für die Rückfahrt.
    Die Männer und Anette machen sich daran, das Kaffeegeschirr nach unten zu bringen. Ich bin nicht so schnell beim Aufstehen. Oma schaut mich voller Mitleid an. Ich will ansetzen zu erklären, dass es nicht so schlimm ist, dass es eben ein bisschen dauert, aber stattdessen sage ich plötzlich:
    »Oma, willst du die Brüste mal sehen?«
    Im gleichen Moment erschrecke ich: War das jetzt zu offensiv? Wie ist es für sie? Sie ist bestimmt total amputiert, seit man vor ein paar Jahren bei ihr Brustkrebs diagnostiziert hat.
    Aber Oma ist keineswegs geschockt: »Würdest du das machen? Stört es dich nicht,
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