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Oben ohne

Oben ohne

Titel: Oben ohne
Autoren: Evelyn Heeg
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kann.
    Auch Evelyn ist sichtbar mit den Nerven am Ende. Sie weint jetzt öfters und zu eigentlich nichtigen Anlässen. Zusätzlich hat sich nun nicht mehr so viel Besuch angekündigt. Klar, so kurz vor Weihnachten will kaum noch jemand durch die Republik reisen, um am Krankenbett seine Aufwartung zu machen, zumal viele über die Feiertage sowieso zu den Verwandten fahren. Aber ich merke, wie mir der Saft langsam komplett ausgeht. Von meiner Zeit als Zivildienstleistender in der Pflege kenne ich das noch allzu gut: Wenn die Belastung zu groß wird, macht irgendwann mein Kopf dicht, ich verweigere sozusagen psychisch den Dienst. Dieser Zustand kündigt sich auch jetzt langsam an, und ich merke, dass ich dringend eine Pause brauche. Meine Stimmung geht rapide nach unten, ich bin emotional kurz vor dem Abschalten, alles nervt mich. Nur will ich Evelyn so nicht allein lassen. Sie ist ja mindestens so schlecht drauf wie ich – mit dem kleinen Unterschied, das ich mich frei bewegen und durch alles Mögliche ablenken kann.
    Elke und Uli wollen Samstag kommen und Sonntag wieder fahren. Dann könnte ich Freitagabend nach Freiburg fahren und erst am Montag wieder zurückkommen. Das wäre die Rettung! Eigentlich ja Wahnsinn, für zwei Tage nach Hause zu gurken, aber mir wird immer klarer, dass ich das jetzt brauche. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich in unserer Wohnung am Samstagabend vor der Glotze sitzen und Sportschau gucken. Genau das ist es, was ich will! Es lässt sich nicht erklären, aber diese Vision wird zu meinem Rettungsanker bis zum Wochenende.

    Aber es soll noch nicht sein. Eine fette Schneefront rauscht am Freitagmorgen heran und verwandelt die Autobahnen in Rutschbahnen und Stauhöllen. Bis zum Nachmittag hadere ich mit der Entscheidung, trotzdem zu fahren oder den Zug zu nehmen, was natürlich viel Geld kosten würde. Außerdem wären da so viele Menschen, gerade an einem Freitagnachmittag und bei Schneefall auf den Straßen. Was ich jetzt dringend brauche, ist etwas Einsamkeit. Schließlich siegt aber die Vernunft, und ich gebe das Vorhaben für heute auf.
    »Bleib doch einfach das Wochenende in München und nimm dir ein richtiges Hotel«, sagt Evelyn. Aber in mir sträubt sich alles bei dieser Vorstellung. Es ist zu spät, ich habe mich zu sehr verausgabt, jetzt brauche ich einfach eine psychische Pause – und die funktioniert wie damals im Zivildienst nur über räumliche Distanz. Evelyn findet das jetzt nicht toll, das ist klar, aber meine Entscheidung steht felsenfest: Wenn es irgend geht, muss ich ein paar Tage weg aus München.
    Dummerweise hatte ich schon ausgescheckt und bekomme im Hotel kurzfristig kein Einzelzimmer mehr, denn am Wochenende strömen die ganzen Fußballfans in die Stadt und belegen die billigen Absteigen. Ich lande mit etwas Glück in einem anderen Zimmer, ein Mehrbettzimmer, was meine Stimmung natürlich nicht hebt. Die Jugendherberge lässt grüßen. Heute würde ich mich tatsächlich einfach in einem anderen Hotel einquartieren, aber damals wollte ich einfach nicht so viel Geld ausgeben, schließlich verdiente ich gerade fast nichts, und meinen Verdienstausfall würde mir ja keiner ersetzen.
    Um die nicht eben aufmunternde Atmosphäre des Mehrbettzimmers zu vermeiden, mache ich mich abends auf die Suche nach einem Kino. Irgendwo einen einigermaßen erträglichen Film gucken, ein Bier trinken und dann ins Bett fallen, das erscheint mit jetzt als die beste Lösung. Kino ist eine Leidenschaft, und ich empfinde es immer als eine Art mentalen Kurzurlaub, von einem guten Film in eine andere Welt mitgenommen zu werden. Schließlich finde ich ein Programmkino, gar nicht weit vom Hotel entfernt. Ein Film, der mich interessiert, läuft um halb elf, jetzt ist es viertel vor zehn. Ich drücke mich noch zwanzig Minuten in der kalten Stadt herum, und sitze dann als einer der Ersten mit einer Flasche Beck’s im Kinosaal. Als ich ins Hotelzimmer komme, ist das Licht im Zimmer längst aus. Ich ziehe mich im Dunkeln aus, lege meine Habseligkeiten ans Bettende und schlafe ein.

    Schließlich fahre ich doch noch heim. Kurz vor dem Mittagessen verabschiede ich mich von Evelyn. Elke und Uli sind schon auf dem Weg vom Bahnhof zur Klinik, aber natürlich hätte es Evelyn gefreut, wenn ich geblieben wäre. Es wird eine richtig lange Fahrt, überall liegen noch Schneereste auf den Straßen, gerade zwischen den Fahrbahnen, und oft ist der Spurwechsel eine richtig heikle Angelegenheit. Aber meine
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