Nuramon
fasste Yendreds Hand. »Wir werden für sie da sein und sie trösten. Und die Kinder werden das ihre tun.«
Yendred nickte, dann küsste er Salyra. Sie gab den Kuss an Lyasani weiter, die den Jugendstein umfasste, der ihr an der Lederkette auf der Brust hing.
Nach einer Liebesnacht, in der Nuramon in Daoramus Armen endlich wieder ein klares Gefühl für seinen Körper gefunden hatte, war der Morgen schweigsam. Es war der letzte volle Tag, der ihnen blieb. Morgen würde er ins Mondlicht gehen. »Es ist alles vorbereitet«, sagte Daoramu leise. Sie schmiegte sich an ihn, und er erinnerte sich an das Geflüster der letzten Nacht. Sie würden mit dem Boot an der Küste nach Norden fahren und dort auf einer unbewohnten Insel den Vormittag verbringen. »Nur du und ich«, sagte Daoramu und küsste ihn mit unruhigen Lippen.
Er strich ihr das Haar von der Wange. »Morgen ist es so weit – und du bist ebenso aufgeregt wie ich.« Er fasste ihre Hand, die auf seiner Brust ruhte, und lächelte. »Die Familie wird dich trösten.«
»Aber wer tröstet dich?«, sagte sie. »Vielleicht reichen die Erinnerungen nicht aus.«
»Vielleicht finde ich Trost bei denen, die schon im Mondlicht sind. Meiner ersten Mutter, meinem ersten Vater, Weldaron, Gaomee und den anderen.«
»Und Noroelle, Ulema und all die anderen, die du einmal liebtest?«
»Noroelle hat Farodin, und Ulema und die anderen werden nicht ewig auf mich gewartet haben. Wer weiß, was Liebe dort bedeutet? Vielleicht lebt sie allein in der Erinnerung, und dann ewig.« Nuramon fasste Daoramus Schultern, streifte ihr Hemd ein wenig zurück und küsste ihr Schlüsselbein. »Ich werde jeden noch so kleinen Augenblick in mir bewahren. Und wer wollte dagegen ankommen?«
»Dann lass uns die Erinnerung vollenden und den Tag mit Eindrücken füllen. Ich möchte selbst rudern, und auf der Insel möchte ich mit dir laufen, bis wir erschöpft sind, und dann möchte ich mich mit dir in einer der Buchten erholen. Und gerade, wenn wir wieder zu Atem gekommen sind, möchte ich dich lieben.«
Nuramon nickte.
»Dann komm!«, sagte sie, und schon war sie auf den Beinen und zog die Vorhänge auf. Grelles Sonnenlicht schlug ihr entgegen.
Nerimee hielt Gaerigar im Arm und lauschte gemeinsam mit ihm den Elfenmärchen ihrer Mutter. Sie schlief ein, und am Morgen weckte Gaerigar sie und fragte, warum sie bei ihm geschlafen habe. »Weil die Geschichten deiner Großmutter so schön waren«, sagte sie.
Es war ein gespenstischer Morgen. Zwar strahlte die Sonne, und kaum eine Wolke trübte den Himmel, doch im Palast herrschte eine bedrückte Stimmung. Ihre Mutter hatte verbreitet, dass ihr Vater heute sterben werde, und alle, denen sie begegnete, sprachen ihr das Beileid aus. Gaeria saß weinend im Speisesaal und ließ sich von den jüngeren Mägden trösten, und Helgura erzählte, dass sie immer geglaubt habe, Nuramon werde sie alle überleben.
Terbarn schien an diesem Morgen wie üblich der Einzige zu sein, der sich nicht vom Geschehen berühren ließ. Kurz darauf aber sah Nerimee den Palastvogt auf dem Gang zum Garten, wo er sich unbemerkt wähnte. Er hielt sich die Stirn, atmete immer wieder tief durch, und als er sie erblickte, erstarrte er. Dann trat er an sie heran, verbeugte sich und sagte: »Verzeih, Herrin!«
Nerimee fasste seine Hand. »An diesem Tag muss keiner von uns die Haltung bewahren. Nicht einmal du.«
Terbarn nickte und dankte ihr. Als er fort war, war sie es, die ihre Haltung aufgab, sich gegen die Wand lehnte und wünschte, das Schicksal ihres Vaters ändern zu können.
Dies war der Tag, da ihr Vater ins Mondlicht entschwand, und es bekümmerte sie. Doch wie würde es erst werden, wenn er fort war? Die Jahre ohne ihre Eltern waren stets von der Hoffnung auf ihre Wiederkehr geprägt gewesen. Wie würde es mit dem Wissen sein, dass ihr Vater nicht zurückkehrte?
Die Angst plagte sie den ganzen Vormittag, und nur Gaerigar vermochte sie mit seinen ständigen Fragen abzulenken. Erst am Mittag wagte sich Nerimee hinaus ins Freie und fand ihre Eltern auf der Steinbank im Garten, von der aus sie immer über die Stadt blickten. Nerimee ging ihrer Mutter zur Hand und half ihrem Vater auf. Sie stützten ihn und führten ihn zur Birkeneiche. Er war wie einer der Verletzten auf dem Schlachtfeld, der nach einem langen Gefecht erschöpft und verwundet ins Lager zurückkehrte und einen Platz suchte, an dem er sich ausruhen konnte. War er in den letzten Tagen voller Leben gewesen,
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