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Nur dieser eine Sommer

Nur dieser eine Sommer

Titel: Nur dieser eine Sommer
Autoren: Mary Alice Monroe
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Veranda gesessen hatte – zählte das überhaupt? Seufzend zog sie die Handbremse an. Wahrscheinlich nicht. Und im Übrigen: Sie konnte sich noch erinnern, wie sie in einem Ausbruch jugendlicher Leidenschaft ihre Mutter angeschrien und ihr klar gemacht hatte, sie wolle mit ihnen allen nicht das Geringste mehr zu schaffen haben – weder mit ihr noch mit ihrem verdammten Vater noch mit sonstigen Dingen, die irgendwie mit ihnen in Verbindung standen.
    Doch genau diese Verbindung meldete sich nun und zwang sie heraus aus der verbrauchten Luft des Wagens, hinein in die kühle, vom Meer her wehende Brise, in die sich der betörende Duft des Geißblatts mischte. Cara verharrte, den einen Fuß schon im Sand, den anderen noch auf der Straße. Sie spürte, wie der Sog an ihr zerrte, sie wegriss vom Ufer jener Welt, die sie gerade hinter sich gelassen hatte.
    Von der Masse der heranflutenden Erinnerungen überwältigt, schätzte sie die noch verbleibenden Meter bis zur Haustür ihrer Mutter ab. Eintreten wollte sie schon, doch jahrelanger Zorn hielt sie wie angewurzelt am Fleck. Daher lehnte sie sich gegen das Fahrzeug und sann nach Worten, nach Floskeln, die das Eis brechen konnten und ihr gleichzeitig ein Minimum an Selbstachtung bewahren würden. Eine Woche bleibe ich, so redete sie sich ein und nahm all ihren Mut zusammen. Vielleicht zehn Tage, höchstens. Einen Tag länger, und ihre Mutter würde sie wahnsinnig machen; im Nu würde der Rückfall in alte Verhaltensmuster erfolgen – Sticheleien und Grobheiten, gefolgt von Schmollen und anhaltendem Schweigen. Gütiger Himmel! Sie massierte sich die Stirn. Ob es ein Fehler gewesen war, überhaupt herzukommen?
    Überall um sie herum färbte sich der Himmel in dunkel-dämmrigen Schattierungen von Blau und Violett. Auf! Heimwärts! So schienen die letzten Warnrufe der Vögel Cara aufzufordern. Irgendwo in der Ferne schlug ein Hund an. Und dann, von der anderen Seite des Hauses her, vernahm Cara den hohen, melodischen Gesang einer Frauenstimme.
    Sie schlich näher, spähte um die Hausecke und erblickte eine kleine Frauengestalt, die gemächlich den vom Cottage zum Wasser führenden Sandpfad heraufschlenderte. Sie trug einen großen Strohhut, einen langen, ausgebleichten Jeansrock und hellrote Segeltuchschuhe. Bruchstücke ihres Lieds – nichts sonderlich Bekanntes – wehten mit dem Wind zu Cara herüber. Mit einer Hand schleppte die Frau einen roten Plastikeimer, ein unverkennbarer Hinweis darauf, dass es sich um eine der „Turtle Ladies“ der Insel handelte, eine der einheimischen Schildkrötenschützerinnen. Caras Herz begann vernehmlich zu klopfen, doch sie schaute weiterhin nur wortlos zu. Aus dieser Entfernung hätte man die Person glatt für ein junges Mädchen halten können. Die Frau wirkte ganz und gar unbekümmert und hatte offenbar nur Augen für die Wildblumenbüschel, an denen sie vorbeilief. Hin und wieder blieb sie stehen, bückte sich und pflückte eine Blume, um gleich darauf ihren Weg zum Cottage fortzusetzen und weiter ihre Melodie vor sich hin zu summen.
    Cara hatte tausend Sachen sagen, sich tausendfach in Positur werfen wollen, doch all ihre Pläne lösten sich in Luft auf – so schnell wie der Schaum der Wellen, sobald sie auf den Strand auftreffen.
    „Mama!“ rief sie aus.
    Ihre Mutter erstarrte und wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Hellblaue Augen blitzten unter der breiten Krempe des Strohhuts, der Mund öffnete sich weit vor echter, überraschter Freude. Dann ließ die Frau den Eimer fallen und breitete in einem beglückten Willkommensgruß die Arme aus.
    „Caretta!“
    Beim Hören des ungeliebten Namens krampfte sich alles in Cara zusammen, doch rasch überwand sie die wenigen Meter und folgte dem uralten Weg des Kindes in die Umarmung der Mutter. Da Cara einen Kopf größer war, musste sie leicht in die Knie gehen, und dabei kam sie sich vor wie immer, wenn sie neben Olivia Rutledge stand: wie ein wild gewordener Bulle neben einem zerbrechlichen Porzellanpüppchen. Doch als sie von ihrer Mutter liebevoll in die Arme genommen wurde, da schwappte eine Woge kindlicher Wonne über Cara hinweg.
    „Du hast mir gefehlt“, flüsterte Olivia, das Gesicht an Caras Wange geschmiegt. „Du bist wieder daheim. Endlich!“
    Cara erwiderte die Umarmung zwar, brachte jedoch kein Wort heraus. Zu viele Jahre des Schweigens erstickten jeden Laut. Dann löste sie sich, trat einen Schritt zurück, und es traf sie wie ein
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