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Nur dieser eine Sommer

Nur dieser eine Sommer

Titel: Nur dieser eine Sommer
Autoren: Mary Alice Monroe
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jetzt aufzumachen. Du weißt, wie die Dinge zwischen mir und Cara stehen. Wahrscheinlich bedarf es eines Wunders, damit wir Frieden schließen. Doch du genießt einen gewissen Ruf als Wundertäter, und das lässt mich hoffen. Bitte, lieber Gott, mehr verlange ich nicht. Auch keinen Aufschub. Ich würde willig hinscheiden, wenn ich sicher sein könnte, der Streit wäre beigelegt, bevor ich diese Welt verlasse.“ Sie lächelte wehmütig. „Willig oder nicht, gehen muss ich so oder so – auch das ist mir bewusst.“ Ihr Lächeln erstarb, als sie schmerzhaft das Gesicht verzog. „Bitte, lieber Gott, erfülle mir diese kleine Bitte. Nicht bloß meinetwegen, sondern um Caras willen. Gib, dass ich noch ein einziges Mal mit meinem Kind spielen darf, ehe ich sterbe. Schicke mir meine Cara heim.“
    Nach zwanzig oder mehr Jahren Aufenthalt im Meer kehrt die weibliche Karettschildkröte zu dem Strand zurück, an dem sie einst aus dem Ei schlüpfte. Dort setzt sie dann ihr Gelege ab. Hunderte von Meilen legt sie dazu im Atlantik zurück, den Bauch unter dem dreihundert Pfund schweren rötlich-braunen Panzer voller befruchteter Eier.

1. KAPITEL
    C ara hatte diese Heimreise im Laufe der Jahre mehrmals im Geiste angetreten. Doch stets war irgendein Projekt, irgendein Termin, irgendein selbst aufgebautes Hindernis dazwischengekommen.
    Aber nun steuerte sie, todmüde und erschöpft von der langen Fahrt, durch die flache, einst als Baumwollanbaugebiet genutzte und nun als Küstentiefland bekannte Ebene gen Süden. Zwanzig Jahre war es mittlerweile her, seit sie zuletzt diesen langen Highwayabschnitt durch South Carolina in Richtung Küste befahren hatte. In ihrer Jugendzeit hatte sie diese Gegend stets nur als eine Durchgangsstation auf dem Weg zu einem anderen Ziel angesehen. Egal, wohin.
    Sie passierte absterbende Waldgebiete, zum Verkauf angebotenes Ackerland, riesige Flachdach-Lagerhäuser und sonnengebleichte Schilder, die auf die nächste Ausfahrt in Gebiete hinwiesen, wo die Aussicht auf geröstete Erdnüsse, reife frisch gepflückte Pfirsiche sowie Stockcar-Rennen mit Feuerwerk winkte. Es war Ende Mai. Allmählich wich der Frühling bereits dem hitzeflirrenden Südstaatensommer. Holunderbeersträucher wucherten an den Straßenrändern; und Cara wusste, dass drüben in den Kiefernwäldern flammend rot die Korallensträucher blühten und Sumpfeibisch üppig die Ufer zierte, als wüchse er in einem naturbelassenen Gewächshaus.
    Plötzlich fiel ihr ein, dass die Jahreszeit angebrochen war, in der die Meeresschildkröten zur Eiablage heimkehrten. Angesichts der Ironie lachte Cara laut auf.
    Hätte ihr jemand vor Jahresfrist gesagt, sie werde im Mai des folgenden Jahres ihrer Mutter einen längeren Besuch abstatten und dazu nach Charleston reisen – Cara hätte nur den Kopf in den Nacken gelegt und wäre in ihr typisches kehliges Lachen ausgebrochen. „Ausgeschlossen“, wäre ihre Antwort gewesen, und ihre Augen hätten zornig geblitzt. Zum einen hätte ihr Terminkalender die Reise von vornherein nicht zugelassen. Bei Cara war jede Minute des Tages doppelt verplant. Notfalls wäre sie allerhöchstens zu einem Kurzaufenthalt mit Übernachtung hingeflogen, wie seinerzeit zur Beerdigung ihres Vaters. Zum anderen gab es auf Erden keinen Ort, den sie weniger gern besucht hätte als Charleston. Und keinem Menschen wäre sie weniger gern begegnet als ihrer Mutter. Der augenblickliche Status quo, eine Art höflicher Waffenstillstand, war beiden, Mutter und Tochter, während Caras selbst gewähltem Exil recht gut bekommen.
    Doch Mama hatte, wie üblich, ein tadelloses Timing. Wohin sonst hätte man schon gehen sollen, wenn die Welt um einen herum in Trümmern lag, als nach Hause?
    Cara umfasste das Lenkrad fester. Warum war ihr sonst in so geordneten Bahnen verlaufendes Leben dermaßen aus dem Ruder geraten? Wie konnte es passieren, dass sie sich nach zweiundzwanzig Jahren der Unabhängigkeit, nach einer viel versprechenden Karriere, nach vollständiger, umfassender Selbstständigkeit auf diesem verdammten Straßenabschnitt wiederfand und Richtung Heimat gondelte?
    Es war der Brief ihrer Mutter gewesen, der sie zu dieser Fahrt verlockt hatte. Noch am Vortag hatte Lovie ihrer Tochter mit der üblichen Blumensendung zum Geburtstag gratuliert. Als Cara den Strauß vorsichtig aus dem lilafarbenen Floristenpapier wickelte, erfüllte der berauschende Geruch von Gardenien die Wohnung. Mit einem Schlage fühlte Cara sich nach Charleston
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