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Nullpunkt

Nullpunkt

Titel: Nullpunkt
Autoren: Lincoln Child
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Marshall stellte überrascht fest, dass der Alte ohne den geringsten Akzent sprach.
    «Ja», antwortete Sully genauso überrascht.
    «Es gibt etwas, das Sie tun können. Etwas sehr Wichtiges. Sie können von hier fortgehen. Heute noch. Und kommen Sie nicht wieder.»
    Diese Antwort machte Sully sprachlos.
    «Aber warum?», fragte Marshall nach einigen Sekunden.
    Der alte Schamane deutete auf den Mount Fear. «Das dort ist ein Ort des Bösen. Ihre Anwesenheit hier ist eine Gefahr für uns alle.»
    «Ein Ort des Bösen?», fragte Sully, nachdem er sich vonseiner Überraschung erholt hatte. «Sie meinen den Vulkan? Er ist erloschen, tot.»
    Der alte Tuniq 1 sah ihn an. Die schräg einfallende Sonne hob die zahllosen Runzeln seines Gesichts scharf hervor. Es war eine Maske bitterer Angst.
    «Was für ein Böses?», fragte Marshall.
    Usuguk verzichtete darauf, deutlicher zu werden. «Sie sollten nicht hier sein», sagte er. «Sie sind Eindringlinge, die hier nichts zu suchen haben. Und Sie haben die Alten wütend gemacht. Sehr wütend sogar.»
    «Welche Alten?», fragte Sully.
    «Normalerweise sind sie …», Usuguk suchte nach dem richtigen Wort. «Normalerweise sind sie gutmütig.» Er beschrieb eine halbkreisförmige Bewegung mit der Hand, die Handfläche nach oben. «In den alten Tagen blieben die Männer hier, all die Männer mit den Uniformen und den Waffen, innerhalb der Metallwände, die sie errichteten. Selbst heute noch dringen die Soldaten niemals an den verbotenen Ort vor.»
    «Ich weiß nichts von einem verbotenen Ort», brummte Gonzalez. «Aber ich bleib mit meinem Hintern hübsch hier in der Basis, wo es warm und freundlich ist.»
    Usuguk schien ihn nicht zu hören. Er starrte unverwandt Sully an. «Ihr seid anders. Ihr habt Boden betreten, den kein lebender Mann betreten darf. Und jetzt sind die Alten wütend, wütender als jemals zuvor in der Erinnerung meines Volkes. Ihr Zorn malt den Himmel blutig rot. Der Himmel schreit vor Schmerz wie eine Frau in den Wehen.»
    «Ich bin nicht sicher, was Sie damit meinen», entgegneteSully, «aber die eigenartige Farbe des Nachthimmels verursacht die Aurora borealis. Das Nordlicht. Es sind Sonnenwinde, die in das Magnetfeld der Erde eintreten. Ich räume ein, dass die Farbe recht ungewöhnlich ist, aber Sie werden das sicher schon früher hin und wieder gesehen haben?» Sully gab sich freundlich und familiär, lächelte, war gutmütig und geduldig, wie ein Mann, der versucht, einem kleinen Kind etwas zu erklären. «Atmosphärische Gase geben überschüssige Energie in Form von Licht ab. Unterschiedliche Gase emittieren Photonen unterschiedlicher Wellenlänge.»
    Wenn diese Erklärung für Usuguk Sinn ergab, dann zeigte er es nicht. «Sobald wir sahen, wie zornig das Geistervolk ist, machten wir uns auf den Weg hierher. Seit jenem Augenblick sind wir unterwegs, ohne Pause und ohne Nahrung.»
    «Ein Grund mehr, hineinzugehen», sagte Sully. «Wir geben euch zu essen und etwas Warmes zu trinken.»
    «Warum ist der Berg verboten?», wollte Marshall wissen.
    Der Schamane sah ihn an. «Verstehen Sie denn nicht? Sie alle haben meine Warnung gehört, und trotzdem weigern Sie sich, darauf zu hören? Der Berg ist ein Ort der Dunkelheit. Sie
müssen
von hier weggehen.»
    «Wir können nicht von hier weg», sagte Sully. «Noch nicht. Aber in zwei oder drei Wochen … werden wir abgeholt. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass wir bis dahin …»
    Doch der Schamane hatte sich bereits abgewandt. Er ging zu den drei Tunit-Frauen.
«Anyok lubyar tussarnek»
, sagte er. Eine der Frauen begann laut zu weinen. Usuguk drehte sich ein letztes Mal um und sah die vier Wissenschaftler der Reihe nach an. Sein Gesicht war erfüllt von einer Mischung aus Sorge und Angst, die Marshall die Nackenhaare zu Berge stehen ließen. Dann zog er einen kleinen Beutel aus seinemParka, tauchte den Finger hinein und kleckste mit einer dunklen Flüssigkeit, die zu viskos war, um etwas anderes zu sein als Blut, eine Reihe von Zeichen auf den gefrorenen Boden der Tundra. Dann verfiel er in einen leisen, gebetsartigen Singsang, richtete sich auf und schloss sich den anderen Mitgliedern seiner Gruppe an, die sich bereits durch die eisige Abenddämmerung entfernten.

4
    Während der beiden folgenden Tage wehte ein frischer Wind aus Norden, der einen klaren Himmel und bitterkalte Temperaturen brachte. Am dritten Tag um elf Uhr morgens verließen Marshall, Sully und Faraday die Basis und wanderten über die gefrorene
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