Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nullpunkt

Nullpunkt

Titel: Nullpunkt
Autoren: Lincoln Child
Vom Netzwerk:
nicht längst unter dem Gewicht des Gletschers eingestürzt ist», sagte Chen.
    Schritt für Schritt drangen sie tiefer in die Höhle ein. Wenn sie sprachen, dann ganz leise, beinahe im Flüsterton.
    «Der Boden unter dem Schnee hier ist von einer Eisschicht bedeckt», sagte Sully nach einer Weile. «Sie zieht sich über die gesamte Breite und ist bemerkenswert eben.»
    «Und die Höhle führt immer tiefer in den Berg hinein», sagte Marshall. «Irgendwann einmal muss dieser Schlot mit Wasser gefüllt gewesen sein.»
    «Und es muss mit bemerkenswerter Geschwindigkeit gefroren sein», sagte Sully. «Weil …» In diesem Moment rutschte der Klimatologe aus. Er stieß einen Schreckenslaut aus und fiel der Länge nach schwer auf das Eis.
    Marshall zuckte zusammen. Das Herz rutschte ihm fast in die Hose, und er wartete darauf, dass die Decke ringsum einstürzte. Als nichts geschah und er sah, dass Sully unverletzt war, wich sein Erschrecken Verwirrung. «Das haben Sie doch gefilmt, Ang, oder?»
    Der Aufbaustudent war totenblass geworden, aber jetzt grinste er. «Sicher, hab ich.»
    Sully erhob sich mühselig, verzog das Gesicht und wischte sich mürrisch den Schnee von der Kleidung. «Das ist ein ernster Moment, Evan. Bitte vergessen Sie das nicht.»
    Sie kamen noch langsamer voran als zuvor. Es war unheimlich still in der Höhle; das einzige Geräusch war das Knirschen ihrer Schritte auf der dünnen Schneeschicht. Die Lavawände rechts und links waren fast schwarz. Sully führte die Gruppe behutsam tiefer, wobei er den Schnee mit den Stiefeln zur Seite wischte und den Lichtkegel seiner Taschenlampe immer wieder über den vor ihnen liegenden Pfad schwenkte.
    Chen spähte in die Dunkelheit vor ihnen. «Sieht aus, als weite sich die Höhle weiter vorn …», sagte er.
    «Das ist gut», erwiderte Sully. «Weil die Eisschicht dicker wird und …»
    In diesem Moment fiel er erneut, doch nicht aus Unbeholfenheit: Marshall erkannte augenblicklich, dass der Wissenschaftler diesmal vor schierer Überraschung zu Boden gegangen war. Hektisch wischte Sully den Schnee von der Eisschicht und leuchtete mit seiner Taschenlampe auf das Eis darunter. Chen ließ sich neben ihm auf die Knie nieder. Er schien die Kamera vergessen zu haben. Rasch trat Marshall zu den beiden und spähte ihnen über die Schulter auf das Eis vor ihnen.
    Mit einem Frösteln, das nichts mit der Kälte in der Höhle zu tun hatte, sah Marshall, was Sully entdeckt hatte. Dort, im Eis unter ihren Füßen, starrten zwei faustgroße Augen – gelb mit schwarzen, ovalen Pupillen – feindselig zu ihnen hinauf.

3
    Den Weg den Berg hinunter legten sie schweigend zurück. Die Entdeckung würde grundlegend verändern, was bis zu diesem Augenblick eine unauffällige, unglamouröse, ja monotone wissenschaftliche Expedition gewesen war. Was all dies bedeutete, vermochte keiner der Teilnehmer zu sagen. Doch von diesem Moment an war nichts mehr wie vorher.
    Zur gleichen Zeit stellte sich jeder Einzelne insgeheim die Frage:
Was zum Teufel ist das für ein Ding?
    Sully brach das Schweigen. «Wir hätten einen Eiskern zum Testen mitnehmen sollen.»
    «Wie lange ist es schon dort, was schätzen Sie?», fragte Chen.
    «Der Fear ist ein Gletscher aus der letzten Kaltzeit, aus dem marinen Sauerstoff-Isotopenstadium zwei», erwiderte Marshall. «Diese Höhle muss also seit mindestens zwölftausend Jahren verschüttet sein. Vielleicht auch schon viel länger.»
    Erneut senkte sich Schweigen über die Gruppe. Die Sonne hatte sich endlich ihren Weg durch die tiefhängenden Wolken gebrannt. Während sie dem Horizont entgegensank, ließ sie die Schneedecke in den leuchtendsten Farben glänzen.
    Geistesabwesend nahm Marshall eine Schneebrille aus der Tasche und setzte sie auf. Er musste ständig an die unergründlichen toten Augen unter dem Eis denken.
    «Wie spät ist es in New York?», fragte Sully nach einer Weile.
    «Halb acht vorbei», antwortete Faraday.
    «Dann sind wahrscheinlich längst alle zu Hause. Wir versuchen es gleich morgen früh. Ang, sorgen Sie bitte dafür, dass das Satellitentelefon noch vor dem Frühstück einsatzbereit ist?»
    «Sicher. Aber ich werde Gonzalez um neue Batterien bitten müssen, weil …» Chen verstummte mitten im Satz. Marshall blickte auf und sah, was den Aufbaustudenten zum Schweigen gebracht hatte.
    Die Basis lag mehrere Hundert Meter unterhalb. Das lange, niedrige Bauwerk wirkte rostig und abweisend im Licht der untergehenden Sonne. Sie waren dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher