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Nullpunkt

Nullpunkt

Titel: Nullpunkt
Autoren: Lincoln Child
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Unwirklich die Tatsache, dass ein Medienriese wie Terra Prime ausgerechnetihre Anträge auf Bezuschussung bewilligt hatte: vier Wissenschaftler von der Northern Massachusetts University mit keinerlei Gemeinsamkeit außer dem Interesse an der globalen Erwärmung. Unwirklich, dass die Regierung ihnen die Genehmigung zur Nutzung der Fear Base erteilt hatte, wenn auch für einen stattlichen Mietpreis und mit strikten Beschränkungen. Und unwirklich, dass die Erwärmung selbst mit solch atemberaubender, geradezu furchteinflößender Geschwindigkeit vor sich ging.
    Er wandte sich mit einem Seufzer ab. Seine Knie schmerzten vom stundenlangen Kauern über der Endmoräne, in der er seine Proben gesammelt hatte. Fingerspitzen und Nase waren halb erfroren. Und um das Fass voll zu machen, war der Schnee einem Schneeregen gewichen, ungemütlicher Nässe, die langsam durch drei Lagen Kleidung zu seinen intimsten Stellen drang. Doch Tageslicht war rar in dieser Jahreszeit, und das Forschungsfenster schloss sich rasch. Er war sich sehr deutlich bewusst, wie wenig Zeit ihm noch blieb. Daheim in Woburn, Massachusetts, würde es mehr als genug zu essen geben, und dort würde er auch mehr als genug Zeit haben zum Essen.
    Als er sich umwandte, um die Probenbeutel aufzuheben, hörte er Faraday sagen: «Vor fünf Jahren, ach, was sage ich – vor zwei Jahren hätte ich so etwas nicht für möglich gehalten.
Regen!»
    «Das ist kein Regen, Wright. Es ist Schneeregen.»
    «Meinetwegen, dann eben Schneeregen. In der Zone, meine Güte, obwohl der Winter vor der Tür steht? Unglaublich!»
    Die «Zone» war ein ausgedehntes Gebiet im nordöstlichen Alaska, am Arktischen Ozean, eingekeilt zwischen dem ArcticNational Wildlife Refuge auf der einen Seite und dem Yukon Ivvavik National Park auf der anderen. Es war eine so trostlose und kalte Gegend, dass niemand etwas mit ihr zu tun haben wollte. Die Temperaturen schafften es nur an wenigen Monaten im Jahr, null Grad zu übersteigen. Vor Jahren hatte die Regierung die Gegend zur Federal Wilderness Zone erklärt und in der Folge prompt vergessen, dass sie überhaupt existierte. Es gab, sinnierte Marshall, wahrscheinlich nicht mehr als zwei Dutzend Leute in dem achttausend Quadratkilometer großen Gebiet: ihr eigenes wissenschaftliches Team, bestehend aus fünf Personen, die Rumpfbesatzung der Station, vier Mann, eine kleine Gruppe eingeborener Amerikaner im Norden und ein paar Rucksacktouristen und Einzelgänger, die zu exzentrisch oder zu hart waren, um sich mit irgendetwas außer der abgelegensten Gegend der Welt zufriedenzugeben. Wie eigenartig der Gedanke doch war, dass sich kaum ein Mensch weiter nördlich auf dem Planeten aufhielt als ihre Gruppe.
    Ein plötzlicher, gewaltiger Knall wie ein Kanonenschlag ließ das Gletschertal mit der Wucht eines Erdbebens erzittern. Das Geräusch hallte über die Tundra unter ihnen und erschütterte die tiefe Stille. Es wurde wie ein Tennisball hin und her geworfen und dann immer leiser, bis es in der endlosen Ferne verhallte.
    Über ihnen hatte der Gletscher erneut gekalbt. Tonnen von Eis und Schnee waren herabgestürzt auf den gefrorenen Haufen Geröll entlang der vorderen Gletscherkante. Marshall spürte, wie sein Herz einen erschrockenen Satz machte. Ganz gleich, wie oft er das Geräusch auch hörte, seine schiere Wucht war jedes Mal ein Schock.
    Faraday zeigte darauf. «Sehen Sie? Das ist genau, was ich meine. Ein Talgletscher wie der Fear sollte in einer hübschen,dünnen Gletscherzunge auslaufen, mit einem Minimum an Schmelzwasser und einer gesunden Perkolationszone, in der nur im Sommer vereinzelt Schmelzen auftreten. Aber das hier – als würde ein Wassergletscher kalben. Ich habe die basale Schmelze gemessen …»
    «Das ist Sullys Job, nicht Ihrer.»
    «Ich habe die basale Schmelze gemessen, und sie sprengt jede Vorstellung.» Faraday schüttelte den Kopf. «Regen, eine beispiellose Gletscherschmelze … und das ist noch längst nicht alles. Beispielsweise die Nordlichter in den vergangenen Nächten. Haben Sie sie auch bemerkt?»
    «Selbstverständlich. Eine einzige Farbe – es war spektakulär. Und ungewöhnlich.»
    «Ungewöhnlich …», wiederholte Faraday nachdenklich.
    Marshall sagte nichts. Seiner Erfahrung nach hatte jede wissenschaftliche Expedition, selbst eine so kleine wie die ihre, ihre ganz persönliche Kassandra. Wright Faraday mit seinem ungeheuren Lernvermögen, seinem pessimistischen Ausblick auf das Leben, seinen dunklen Theorien
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