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Nullpunkt

Nullpunkt

Titel: Nullpunkt
Autoren: Lincoln Child
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erfüllten das Schneehaus mit dem Geruch nach Wald. Langsam und ehrfürchtig nahm er die Gegenstände aus dem Kästchen und arrangierte sie vor dem Feuer in einem Halbkreis: die Stoßzahnspitze eines seltenen weißen Walrosses, das sein Urururgroßvater gejagt und getötet hatte. Einen Stein in derFarbe des Sommersonnenlichts, geformt wie der Kopf eines Vielfraßes. Ein Karibugeweih, feierlich zersägt in einundzwanzig Teile, verziert mit kunstvollen Mustern aus winzigen, eingestanzten Löchern, jedes einzelne gefüllt mit Ocker.
    Als letzten Gegenstand nahm er die winzige Figur eines Mannes hervor, erschaffen aus Rentierhaut, Elfenbein und Stoff. Er legte die Figur in die Mitte des Halbkreises. Dann, indem er seine Handflächen flach auf den Boden des Iglus presste und das Kinn auf die Brust sinken ließ, verneigte er sich tief vor den Symbolen.
    «Mächtiger Kuuk’juag», inkantierte er. «Jäger der Gefrorenen Wüste, Beschützer des Volkes. Nimm deinen Zorn von uns. Gehe dahin im Mondlicht. Kehre zu den Wegen des Friedens zurück.»
    Er setzte sich aufrecht hin. Dann streckte er die Hand nach dem ersten Gegenstand des Halbkreises aus, dem Walross-Stoßzahn, und drehte ihn im Uhrzeigersinn, bis er der kleinen Figur in der Mitte zugewandt war. Mit der Hand auf dem Stoßzahn sang er halb, halb betete er das Sühnegebet und flehte Kuuk’juag an, sich zu erbarmen und zu vergeben.
    Die Verfehlung hatte sich am vorangegangenen Morgen ereignet. Während ihrer täglichen Arbeit hatte Nulathe unabsichtlich die Sehnen eines Karibus mit dem Fleisch einer Robbe in Berührung gebracht. Sie war müde gewesen und krank – nur so konnte man einen solchen Fehler erklären. Dennoch war die verbotene Tat begangen, das uralte Gesetz gebrochen. Die Seelen der toten Tiere, die in spirituellem Gegensatz zueinander standen, waren besudelt worden. Und Kuuk’juag der Jäger hatte ihren Zorn gespürt. Das erklärte, was Usuguks winzige Gruppe in der Nacht zuvor in der gefrorenen Ödnis gesehen hatte.
    Das Gebet währte zehn Minuten. Dann – langsam, vorsichtig – bewegte Usuguk seine runzlige Hand zum nächsten Gegenstand und begann seinen Sprechgesang von neuem.
    Die vollständige Zeremonie dauerte zwei Stunden. Endlich, nachdem sich der alte Mann ein letztes Mal vor der Figur verneigt hatte, sprach er einen Abschiedssegen, bevor er die Beine unter dem Körper hervorzog und sich unter Schmerzen aufrichtete. Wenn alles gutgegangen war, wenn er das Gebet richtig aufgesagt hatte, in der Weise seiner Vorfahren, würde der Makel von ihnen gehen, und der Jäger würde seine Wut bezähmen. Der Schamane umrundete das Feuer, zuerst im Uhrzeigersinn, dann entgegengesetzt. Dann kniete er vor dem Kästchen nieder und legte die Gegenstände, beginnend mit der kleinen Figur, einen nach dem anderen zurück.
    Während er dies tat, vernahm er von draußen Lärm: Schreie, Schluchzen, Stimmen, die vor Verzweiflung und Schmerz laut klagten.
    Rasch erhob er sich, und Angst umklammerte seine Brust. Er schlüpfte in seinen Parka, schlug das Karibufell zurück und trat hinaus ins Freie. Dort waren die Frauen, rauften sich die Haare und zeigten hinauf zum Himmel.
    Er hob den Blick nach oben und stöhnte auf. Die Angst und die Beklemmung, die während des beruhigenden Rituals ein wenig abgeklungen waren, überwältigten ihn nun aufs Neue und mit verdoppelter Wucht. Sie waren zurück – und schlimmer als in der Nacht zuvor. Sehr viel schlimmer.
    Die Zeremonie hatte nichts genutzt.
    In diesem Augenblick erkannte Usuguk mit einer schauerlichen Gewissheit noch etwas: Dies war nicht das Resultat von etwas, das Nulathe oder eine der anderen Frauen angerichtet hatte. Es war nicht der bloße Zorn von Kuuk’juag odereine versehentliche Entweihung. Nur ein Bruch des größten aller Tabus konnte diese Art von spiritueller Wut erzeugen, die er nun mit ansehen musste. Und Usuguk war gewarnt gewesen – wie die zahllosen Generationen vor ihm auch –, was für ein Tabu das war.
    Nicht nur gewarnt gewesen – er hatte es
gewusst
. Usuguk hatte es
gesehen

    Er starrte die Frauen an, die seinen Blick aus geweiteten Augen angstvoll erwiderten. «Packt zusammen, was ihr braucht», befahl er ihnen. «Morgen brechen wir nach Süden auf. Wir gehen zum Berg.»

1
    «Hey, Evan. Mittagessen?»
    Evan Marshall legte den Ziploc-Beutel zur Seite, erhob sich und massierte seinen Rücken. Die letzten neunzig Minuten hatte er mit dem Gesicht nur wenige Zentimeter über dem Boden
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