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Nox Eterna - Die ewige Nacht der Anne Oxter

Nox Eterna - Die ewige Nacht der Anne Oxter

Titel: Nox Eterna - Die ewige Nacht der Anne Oxter
Autoren: Damian Raye
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tränken.“
     
    Sie deutete hinab auf die Ebene am Fuße des Felsens. Dunkles Metall blitzte von dort zu ihnen hinauf.
     
    „Die Schwarze Garde sammelt sich dort unten schon, Anne!“ Nox nahm ihre Hand und führte sie zur Kante des Abgrunds. „Meine Raben werden sie anführen, und sie werden das Land schleifen! Kein Stein soll auf dem anderen bleiben.“ Sie war merkwürdig aufgeregt – fast wie ein kleines Kind, dachte Anne. Wie ein kleines Kind, das sein Spielzeug kaputt macht, weil es ihm langweilig geworden ist. Fast spürte sie Mitleid mit Nox, da streifte sie Pucks weißer Pelz am Handgelenk. Angewidert entzog sie Nox ihre Hand.
     
    Die Rabenarmee setzte sich in Bewegung. Russflocken begleiteten ihren Flug, einige zogen noch schwarze Rauchschwaden hinter sich her, als lösten sich ihre Federn langsam auf, während sie flogen. Am Grunde der Schlucht begann auch das Heer zu ziehen, eine Kette von Pechfackeln markierte seinen Weg. Kriegsgesänge erklangen, dazwischen Trommeln und Flöten, furchtbar verzerrt vom eigenen Echo, eine Symphonie des Grauens.
     
    Anne starrte ihnen wie gebannt hinterher. Was konnte sie tun? Sie wusste nicht, ob es ein Zauber von Nox oder ihr eigenes Gefühl der Machtlosigkeit war, das sie handlungsunfähig machte. Hilflos sah sie zu, wie Gebäude um Gebäude angegriffen und zerstört wurde, das Oakwood Hospital, das Brenchley Museum und die Bibliothek brannten, die ohnehin zerstörte Kirche war nur noch ein Haufen geborstener Balken und ungeordneter Steine. Trümmer des erzbischöflichen Palastes waren in den Fluss geschleudert worden, das Wasser staute sich an ihnen. Fast alle Brücken über den Medway waren zerstört. Über der Papierfabrik flog eine Wolke brennender Fetzen, von der Hitze empor getragen. In Aylesford markierten schwarze Rauchwolken die Stelle, wo die Lautsprecherfabrik gestanden hatte.
     
    Das Stampfen von Truppen hallte aus dem Tal herauf, erschütterte die Gemäuer und den Boden, es schien, als sei der Himmel selbst dem Kampf beigetreten und Donner kündete die Ankunft seiner Streitmächte an. Doch gerade dieses Geräusch machte es Anne klar, dass etwas fehlte. In diesem gigantischen Panorama der Zerstörung sah oder hörte sie keinen einzigen Menschen. Niemand schrie seinen Schrecken heraus, niemand fürchtete die Explosionen oder floh vor den Flammen. Das alles war nur eines – ihr eigener, furchtbarer Traum.
     
     Sie selbst war es, die Nox diese Orgie der Zerstörung ermöglichte. Sie selbst würde es tags darauf sein, die die Gewaltfantasien ihrer bösen Seite in die alltägliche Realität tragen konnte. So sehr Nox auch ihre magische Stärke demonstrierte – ohne Anne war sie machtlos.
     
    Da wachte Anne auf.
     

XII
     
12. Oktober 2010
    Frei, endlich wieder frei! Dass Anne aus der Psychiatrie fliehen würde, schien niemand eingeplant zu haben. Es war mehr als einfach gewesen: Nach Alans letzten Besuch stellte sie fest, dass ihre Tür offen war – und auch die Tür, die aus der geschlossenen Abteilung nach draußen führte. Am merkwürdigsten fand Anne, dass ihr Dr. East in der Eingangshalle der Klinik begegnet war, sie aber nicht aufgehalten hatte, sondern wie durch sie hindurch gesehen hatte. Zwar spürte sie noch die pharmazeutischen Ketten um ihre kranke Seele, war von den Nebenwirkungen der Medikamente unsicher in ihren Bewegungen und zuerst langsam, sehr langsam.
     
    Mit jedem Schritt, den sie tat, wachte sie weiter auf. Sie fuhr nach London, zuerst per Anhalter im Wagen einer freundlichen älteren Dame bis Westham, dann schwarz mit der U-Bahn weiter bis zur Paddington Station. Mit dem Nachlassen der Medikamentenwirkung wurde alles klarer, Bilder und Geräusche wirkten fast überwirklich. Aus der Stille der Highlands herausgerissen, mit einer von Medikamenten hinters Licht geführten Seele und unter dem Eindruck des letzten großen chaotischen Traums flog ihr nun ein seltsamer Gedanke zu, war sie sich plötzlich sicher, dass die Wirklichkeit die Summe aller Rachefantasien der Menschen um sie herum war, dass diese Welt aus den widerwärtigen Träumen und boshaften Wünschen jener Menschen entstanden war, die wie sie eine personifizierte böse Seite besaßen.
     
    Womöglich beherbergte jeder Mensch eine solche Inkarnation des Bösen, der er im Traum begegnen konnte, wenn er denn ihren Namen kennen und nennen könnte. Konnte es so viel Unheil auslösen, zufällig einen verborgenen Namen zu finden, ihn zu kennen oder ihn
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