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Novemberasche

Titel: Novemberasche
Autoren: dtv
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hätte und doch hierhergefahren wäre, müsste Marie
     den Polo hier irgendwo sehen. Aber hier war kein Auto. Eine so günstige Gelegenheit, sich die Sache einmal näher anzusehen,
     würde so schnell nicht wiederkommen. Marie schob das Rad an der Schranke vorbei, um es hinter dem Holzstoß vor wem auch immer
     zu verstecken.
    Der Regen war wieder stärker geworden und sie zupfte ihren klammen Schal so zurecht, dass die eisigen Tropfen nicht in den
     Kragen rutschten. Links von ihr wurden die Bäume dichter, schlossen sich zu einem Wald, der schon länger die ordnende Hand
     eines Försters oder Waldarbeiters zu vermissen schien. Rechts des Weges lag Reisig in Haufen, umwuchert von Gestrüpp. Der
     Weg verlief in einer leichten Rechtskurve, und das Gelände öffnete sich zu einer baumlosen Ödnis, die einer Mondlandschaft
     glich. Marie machte halt. Hier sah es nicht gerade danach aus, als würde gleich ein Haus, das Haus, das sie suchte, auftauchen.
     Im Gegenteil. Der Weg wurde schlechter, und dem Gestrüpp nach zu urteilen, das ein Stück weiter hinten wuchs, war es nicht
     sehr wahrscheinlich, dass ihn jemand in jüngster Zeit begangen hatte. Also wieder zurück, bis zu der Stelle, wo sich der Holzstapel
     befand. Denn dort gabelte sich der Weg, und ein Trampelpfad führte daran vorbei nach Westen. Als sie vorhin dort vorbeigekommen
     war, hatte sie gedacht, der Pfad würde nach ein paar Metern enden. Sie stieg über ihr Rad hinweg und folgte diesem Weg, der
     sich zwischen fahlgelbem Gras und Gestrüpp durch ein seltsam unregelmäßiges Gelände wand.
    Sie blieb einen Moment stehen, lauschte. Ließ den Blick noch einmal schweifen, ob es noch eine andere, eine dritteMöglichkeit gab. Dann entschloss sie sich, dem Pfad zu folgen. Irgendwo musste Eva doch die Plastiktüte versteckt haben.
    Die einzigen Geräusche in dieser Einöde waren das unendliche Rauschen des Regens und Maries unstete, hastige Schritte. Wie
     das letzte Mal auch schon, erschien ihr dieser Ort wie erstarrt, völlig leblos. Der Pfad schlängelte sich tiefer und tiefer
     ins Dickicht, aber das plattgetretene alte Gras zeigte ihr, dass hier jemand vor nicht allzu langer Zeit gegangen war. Und
     wenn es nicht Eva gewesen war, wer dann? Wer würde freiwillig in dieser verdammten Ödnis herumkriechen?
    Und plötzlich sah sie es, schwach nur, ein Schemen, der durchs Gezweig schimmerte, aber es war kein Zweifel möglich: Dort
     – einen Steinwurf entfernt – stand ein Haus.
     
    ☺
     
    Heute haben sie nach der Schule auf mich gewartet. Alle vier lungerten am Eingang herum und haben auf ihren Handys rumgedrückt.
     »Willst mal sehen, was wir hier haben?« Aber ich wusste es ja schon. »Wenn es notwendig wird, müssen wir auch deine neuen
     Mitschüler darüber in Kenntnis setzen, wer genau du bist und was du so machst.« Sie grinsten mich an, und dann sagte ER: »Genauer
     gesagt, WIE du’s machst.« Und dann haben sie sich totgelacht.
     
    *
     
    Sie blieb noch lange sitzen. Sah andere kommen und gehen. Und sah sie doch nicht. Die Frau von der Kaffeeausgabe kam auch.
     Irgendwann. Ob ihr etwas fehle? Ob sie ihr helfen könne? Paulas Blick tastete sich den Arm der Frau entlang zu ihrem Gesicht.
     Nein. Sie brauche nichts.Und dann stand sie auf. Während der letzten halben Stunde hatte sie Maries Worte hin- und hergeschoben. Wie Puzzleteile. Hatte
     versucht, ihre Bedeutung zu verstehen, ihre wahre Bedeutung. Sie hatte versucht, die Teile zu ordnen. Doch ein Teil war größer
     und wichtiger als alle anderen. Dass Erik keine Frau neben ihr gehabt hatte. Das hatte Marie ein paarmal gesagt. Er war ein
     anständiger Kerl, Paula! Marie hatte sich vorgebeugt und nach Paulas Hand gegriffen. Verstehst du das? Und sie, Paula, hatte
     es verstanden. Aber warum fühlte sie dann nichts? Sie hatte nichts gefühlt als dieses pechschwarze und zähe Nichts. Konnte
     es sein, dass ihr Kopf nicht mehr richtig funktionierte? Dass tatsächlich etwas kaputtgegangen war, in diesem Kopf? Das hatte
     sie sich gefragt zwischendurch, während Marie weitergesprochen und weitergesprochen hatte. Sie hatte sich wirklich Mühe gegeben,
     alles zu verstehen. Aber dann waren immer neue Details hinzugekommen. Und am Schluss war aus ihr wie aus einem Überlaufventil
     alles wieder herausgeflossen. Doch als Marie gegangen war, hatte sie versucht zu denken. Sich zu erinnern. An alles, was Marie
     gesagt hatte. Denn etwas war dabei gewesen, was ihr Unbehagen bereitet hatte. Aber was?
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