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Novemberasche

Titel: Novemberasche
Autoren: dtv
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Hatte Angst vor der Berührung. Beugte sich dann
     doch wieder über ihn und begann, den Stacheldraht zu lösen. Mit Händen, die ihr kaum gehorchten. Fieberhaft tastete sie den
     Draht ab, stach sich in die Finger, suchte das Ende, konnte nicht genug erkennen in dem dämmrigen Licht, nahm wieder das Handy
     und drückte eine Taste und versuchte, im bläulichen Schein den Draht zu lösen. Sie spürte, wie kalter Schweiß ihr auf die
     Stirn trat, wie es unter ihren Armen feucht wurde. Ich finde das verdammte Ende nicht. Dann hörte sie ein Geräusch hinter
     sich. Und drehte sich um.
     
    *
     
    Das letzte Stück ging Paula zu Fuß. Das Geld hatte genau bis zum Ortsschild Fischbach gereicht. Es ist verrückt, was ich hier
     tue, dachte sie. Aber wahrscheinlich tut man so was eben, wenn man in der Klapsmühle sitzt. Als sie wenig später das kleine
     gelbe Schild mit der Aufschrift ›Ziegelgrube‹ entdeckte, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Sie bog nach rechts ab, folgte
     dem kleinen Weg, während das Zischen der Autoreifen in immer weitere Ferne rückte. An einer Abzweigung parkte ein kleiner
     roter Wagen. Sie zögerte kurz, wusste nicht, welche Richtung sie einschlagen sollte, ging dann aber geradeaus weiter. Wahrscheinlich
     bin ich völlig falsch, dachte sie.Und wahrscheinlich sitzt Marie jetzt irgendwo in einem gemütlichen Café, oder sie macht einen Stadtbummel, um ihre undankbare
     Freundin zu vergessen. Das schlechte Gewissen meldete sich, aber nicht zu stark. Das lag wahrscheinlich an den Medikamenten,
     die sie nahm. Flüchtig kam ihr der Gedanke, dass die Wirkung sicher bald nachließe. Würde sie dann einen Anfall bekommen?
     Unwillkürlich grinste Paula. Ja, dachte sie, ich bin verrückt. Vollkommen durchgedreht. Ich tue Dinge, die absolut nicht nachvollziehbar
     sind. Sie sah schon den Zeitungsartikel vor sich: Eine kleine Meldung im Lokalteil – die Polizei bittet um Hinweise.
Eine Patientin des PLK
– ach, Entschuldigung, so hieß das ja nicht mehr   –, also
eine Patientin der Zentren für Psychiatrie Südwürttemberg wird vermisst. Die Frau ist circa 1,70   m groß, hat blondgefärbtes ungepflegtes Haar. Bekleidet ist sie mit einem dunkelbraunen Mantel von Prada und passenden Sneakers,
     ebenfalls von Prada. Zuletzt gesehen wurde die Frau auf dem Gelände der Weißenau, als sie unsinnige Telefonate von einem Handy
     aus führte. Die Frau ist suizidgefährdet, stellt aber keine Gefahr für die Öffentlichkeit dar. Hinweise bitte an die nächste
… blablabla. Paula konnte ein nervöses Kichern nicht unterdrücken.
    Vor der Schranke blieb sie stehen. Davon hatte Marie doch gesprochen. Ja, sie war ganz sicher. Sie blickte sich um, und als
     sie niemanden entdeckte, ging sie seitlich an der Schranke vorbei. Sie blieb stehen. Wenn sie nur besser zugehört hätte, genauer
     auf Maries Beschreibung geachtet hätte. Der Hauptweg verlief geradeaus. Sie setzte sich wieder in Bewegung und folgte der
     Kurve, die der Weg machte. Es regnete immer noch, und Paula hatte ihre Augen zusammengekniffen. Sie fühlte sich völlig orientierungslos.
     Wenn sie wenigstens ihr verdammtes Handy dabeigehabt hätte. Aber das lag ja auf ihrem Nachttisch in der Klinik. IhreSchuhe waren inzwischen völlig durchnässt, und ihre Ohren begannen allmählich zu schmerzen. Sie hatte schon immer schnell
     Ohrenschmerzen bekommen, wenn sie mit nassen Haaren unterwegs war.
    Nach zehn Minuten merkte sie, dass sie im Kreis gegangen war. Hier war die Schranke und dort der Holzstoß. Hinter dem, wie
     sie jetzt bemerkte, ein schmaler Trampelpfad vorbeiführte. Und jetzt sah sie auch das Rad, das im Gebüsch hinter dem Holzstoß
     lag. Gehörte das nicht Marie? Hastig lief sie hin und betrachtete es aus der Nähe. Ja, dachte sie mit einer Mischung aus Erleichterung
     und Unbehagen, dann kann Marie also nicht mehr weit sein. Irgendwo hier musste sie stecken. Aber etwas hielt Paula davon ab,
     laut herumzuschreien. Sie stolperte weiter den Pfad entlang, vorbei an Haufen von abgestorbenen Zweigen. An blattlosen Bäumen
     vorüber, zwischen Büschen hindurch. Dann endete der Pfad, abrupt. Sie blieb eine Weile ratlos stehen. Blickte sich um, ganz
     langsam, versuchte eine Richtung zu erkennen, niedergetrampeltes Gras, irgendetwas. Aber da war nichts. Irgendwo hier musste
     Marie doch sein. Sie tat noch ein paar unentschlossene Schritte, ging vorüber an einem umgestürzten Baum. Fühlte plötzlich
     eine merkwürdige Schwäche in den
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