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Novemberasche

Titel: Novemberasche
Autoren: dtv
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Beinen. Dachte daran, dass es auf der Station jetzt sicher bald Abendessen gab. Und daran,
     dass sie Hunger hatte. Vielleicht war das ja auch gar nicht Maries Rad, das da im Gebüsch lag. Und wie käme sie jetzt zurück
     in ihr Irrenhaus? Das waren doch bestimmt fünfundzwanzig Kilometer Fußmarsch? In durchweichten Schuhen. Sie wollte gerade
     ummkehren, als sie etwas Rötlich-Braunes durchs Gebüsch schimmern sah. War das etwa ein Haus? Sie ging ein Stück weiter und
     erblickte ein kleines Ziegelgebäude, eine Tür aus rohem Holz, die so aussah, als habe jemand mit wenig Talent oder Lust sie
     zusammengezimmert. Und aufeinmal hatte Paula das Gefühl, als müsste sie jedes Geräusch vermeiden. Sie blickte sich um. Tastete vorsichtig die kleine
     Lichtung ab, auf der das Haus stand. Ein verrostetes Gerät, eine ehemals blaue Tonne. Alte Autoreifen. Ein giftiger Ort, dachte
     sie plötzlich. Ihre Beklemmung wurde stärker. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre fortgerannt. So schnell
     sie konnte. Doch dann sah sie das Fenster an der Schmalseite des Gebäudes. Und fast zeitgleich hörte sie ein Geräusch. Das
     eindeutig aus dem Inneren des Gebäudes kam. Sie spürte, wie die Angst sie zu lähmen drohte. Hörte dem Donnern ihres eigenen
     Herzschlags zu. Bevor sie sich dem Fenster näherte. Im ersten Moment sah sie nichts. Nur Schatten hinter einer schmutzigen
     Scheibe. Doch dann bemerkte sie die Gestalt auf dem Boden. Und dann erblickte sie eine Frau, die sich über eine andere Frau
     beugte, die ebenfalls dort lag. Die Frau auf dem Boden war Marie.
     
    Einen Moment lang stand sie völlig still, wie gelähmt. Starrte auf den Rücken der Frau, auf die groben Maschen ihrer dunklen
     Strickjacke. Auf Marie, deren Augen geschlossen waren. Und das war der Moment, in dem die Frau sich umdrehte.
    Paula fuhr zurück, taumelte. Drehte sich um und rannte weg. Stieß gegen die blaue Tonne, die mit einem dumpfen blechernen
     Widerhall umkippte. Sie hatte nur einen Gedanken, weg, fort, Hilfe holen, irgendwie. Doch da hörte sie bereits ein Geräusch
     hinter sich, schwere Schritte. Die Frau. Sie wagte nicht, sich umzudrehen, aus Angst, das Gleichgewicht zu verlieren. Und
     so rannte sie einfach weiter, blind, brach durchs Unterholz. Als sich der Wald wieder lichtete und sie zu einer Stelle kam,
     wo der Pfad auf den Weg stieß, wandte sie sich in der Kurve um, konnte aber niemanden mehr entdecken. Auch die Schritte warenverstummt. Sie wurde langsamer. Drehte sich noch einmal um, im Gehen. Die Frau war fort. Verschwunden. Paula atmete auf. Jetzt
     nichts wie raus hier. Ihre Lungen brannten, ihr Atem ging stoßweise. Und außer einem überwältigenden Schwächegefühl in den
     Beinen fühlte sie eine nackte, alles verschlingende Angst. Sie sah einen dicken Stock auf dem Boden liegen. Hob ihn auf. Vorsichtshalber.
     Dann beschleunigte sie ihre Schritte, verfiel wieder in einen leichten Trab. Und während sie lief, tasteten ihre Augen das
     Gebüsch ab, links und rechts des Weges. Sie ist tatsächlich wieder zurückgelaufen, dachte Paula, als sie endlich wieder am
     Holzstoß ankam, dort, wo Maries Fahrrad im Gebüsch lag. Mit dem sie jetzt Hilfe holen wollte. Sie steuerte auf das Rad zu,
     in der einen Hand hielt sie immer noch den Stock. Gerade als sie sich über das Rad beugen wollte, sah sie aus dem Augenwinkel
     eine Bewegung, ein Schemen nur. Sie machte einen Satz nach links und holte reflexartig mit dem Knüppel aus. Der Knüppel schwang
     durch die Luft. Und verfehlte die Frau knapp. Und dann bemerkte Paula, dass die Frau ein Messer in der Hand hielt, und dass
     die Hand verbunden war. Schreien, dachte Paula, vielleicht hört mich ja einer. Doch dann sah sie das kleine Sträßchen vor
     sich, über das sie gekommen war, dieses einsame kleine Sträßchen, das zu dieser Einöde führte. Das war ihr erster Gedanke.
     Ihr zweiter entstand sehr langsam, und hatte seinen Ursprung in Maries regloser Gestalt, die hilflos auf dem Boden lag. Und
     diese Frau, über sie gebeugt. Was hatte sie Marie angetan? Und auf einmal brach sich dieser Gedanke Bahn, wuchs an, schwoll
     an und Paula begann zu schreien, zu brüllen, schwang ihren Knüppel in einer rasenden, gestaltlosen Wut, die sich gegen ihr
     ganzes Leben richtete. Sie sah, wie die Frau mit dem Messer zurückwich, für einen Wimpernschlag. Doch dann veränderte sich
     der Gesichtsausdruck der Frau, sietat einen Schritt auf Paula zu. Der Knüppel traf auf
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