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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
Autoren: Alfred Döblin
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Hauptsaal, die Stationsschwester trug Temperaturen auf Kurven ein. Sie flüsterten miteinander. Die Stationsschwester kalt: »Ja sehen Sie zu, wo Sie einen Doktor herbekommen« – sie zuckte die Achsel, schrieb ruhig weiter. Dann ließ sie die Hand mit der Füllfeder auf der Kurve liegen und blickte der Jüngeren voll ins Gesicht: »Wozu wollen Sie eigentlich einen Doktor bei dem? Sie fahren lustig mit Ihrem Wagen in das Zimmer. Er hat doch schon heut nacht den Kuratus gehabt.« Die Verbandschwester machte Augen. Die Ältere: »Wo ist übrigens der Wagen?« »Noch da, in seinem Zimmer.« »Ich bin hier bald durch, noch drei Betten. Wir fangen dann drüben bei dem Empyem an, der hat’s sehr nötig, die Nachbarn beschweren sich, riecht.«
    Die Große entfernte sich rasch, die Ältere studierte wieder mit gerunzelter Stirn ein Thermometer: »Sie haben doch schon wieder nicht runtergeschlagen, Kunz.«
    Im Einzelzimmer war es ein Tag wie jeder. Seitdem das Zimmer da war und seine Fenster öffnete, wurde es morgens grau, hell und heller. Das Sonnenlicht fiel um elf herein, wenn die Bäume auf der anderen Seite des Hofs ihren Schatten kürzer werden ließen. Dann wich die Sonne, die Helligkeit dauerte noch eine Stunde, während die Menschen in dem Zimmer atmeten und litten, es wurde dunkel, finster, die Nacht war da. Jetzt lag einer im Bett und war im Vergehen. Der Verbandwagen stand da, als die Schwester auf Spitzen wieder eintrat. Der Verbandwagen am Fenster neben dem Bett sah freundlich, friedlich und hoffnungsvoll aus mit seinen weißgedeckten Glasplatten. In seinen Becken und Schalen lagen sterilisierte blanke Messer, Pinzetten, Scheren, Gefäßklemmen, Nähzeug. Die hohen Glasbüchsen waren mit Tupfern vollgestopft. Unten lagen offen Gipsscheren und Binden. So wartete der liebe Verbandwagen am Fenster, und sein Metall blinkte. Er war auf weißen Beinen, auf kleinen roten Gummirollen hereingelaufen. Die große hellblonde Schwester stellte sich vor den Wagen am Bett, um ihn zu verdecken. Die Schwester war genötigt, hier zu stehen, sie floh nicht, der Tod rief sie an.
    Dem jungen Menschen war nicht viel geschehen. Er war als Beobachter zu einer Erkundung aufgeflogen, das Maschinengewehr eines feindlichen Fliegers spielte in der Nähe, von den Kugeln nahm eine, während sie über hundert Kilometer flogen, ihren Weg in seinen Leib. Sie hätte eine Sekunde vorher, als er sich noch nicht zurechtgesetzt hatte, den leeren Platz getroffen. Nun schwirrte das runde Blei durch den Gurt, die Jacke, die Hose des jungen Menschen und fand keinen Widerstand, und auch an der weichen Haut, die noch nie eine Liebende berührt hatte, fand sie keinen Widerstand. Glatt senkte sie sich ein, als wäre dies ihr Platz. Sie wuchs aus der Welt in diesen weichen Leib hinein wie eine Wurzel aus einer Pflanze in die lockere Erde. Sie traf auf ihrem Weg das spiegelglatte Bauchfell und machte einen kleinen Riß hinein. Die langen dünnen Därme bewegten sich, sie zogen sich nicht zusammen, als die Kugel kam, es ging zu schnell, sie nahm ihren Weg durch sie und prüfte im Vorübergehen den dünnen Speisebrei, der sich da fand vom Frühstück, die Kugel nahm nichts weg. Sie durchquerte den Darm. Da wogte gewaltig ein großes Gefäß, in ihm ruckte und schlug das Blut, das vom Herzen kam, die Kugel nippte daran, sie pflanzte sich in den Knochen dahinter ein, einen Wirbel, in ihm blieb sie stecken. Sie war inzwischen mit dem Mann, in dem sie saß, und mit dem Flugzeug viele Meter von dem kleinen Geschütz entfernt, aus dem sie gespritzt war. Man band den Mann, als er ankam, aus den Riemen los und tat an ihm vieles, was er nicht merkte. Man holte die Kugel aus ihrem Versteck, die Risse konnte man finden und schließen. Der kleine, immer zum Scherz geneigte Operateur blickte auf, als er die Kugel zwischen zwei Fingern rollte, seine Hände steckten in hellbraunen Gummihandschuhen: »Also wer kriegt sie heute?« Zwei assistierende Schwestern riefen hintereinander: ich. Der Doktor, während er schon in der Tiefe des Leibes weiterarbeitete – die Kugel hatte er in ein Eiterbecken fallen lassen –, brummte: »Also wird wieder gelost.« Die eine seufzte: »Oh, ich verliere immer.« Der Operateur ließ sich den Stirnspiegel zurechtrücken, er murmelte hinter seiner Mullbinde: »Sie sind nicht die einzige, die verliert.« Der Krieg verloren, wir verloren, der Mann hier verloren, also spülen, Bauchfell waschen, Kochsalzinfusion, vielleicht schlägt er sich
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