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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
Autoren: Alfred Döblin
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durch.
    Die große blonde Schwester im Einzelzimmer hielt sich, die Hände rückwärts, am Verbandwagen fest. Sie hatte schon genug sterben sehen, im Osten, in Rumänien und im Westen. Aber jetzt noch immer, wo alles schon vorbei war, noch immer. Sie überwand sich, faßte eine zuckende feuchte Hand auf der Bettdecke und hielt sie. Zum Schutz, falls einer plötzlich hereinkäme, drückte sie einen Finger auf den Puls – aber sie hatte hier nicht Puls zu zählen –, mit beiden Händen hielt sie die eine des Kranken, der unentwegt angespannt zum Fenster hinaussah. Sie wußte nicht, was sie trieb, die Hand so lange zu fassen und ein ungestümes Gefühl in ihre Hände zu legen. Was kann ich tun, dachte sie, bangte sie, sie wollte ihm von ihrem Atem mitgeben. Der Krieg ist ja aus, es ist ja alles vorbei. Er blickte jetzt an die Decke hinauf. Sie ließ seine Hand los, das Gefühl überwältigte sie. Du wirst nicht sterben, ich halte dich, du sollst nicht, wie heißt du, sie las auf der Tafel: Richard, komm, Richard, halt fest, preßte seine Hand, der Kranke nahm sie wahr, sein Blick flog zu ihr.
    In diesem Augenblick öffnete sich mit einem Ruck die Tür, ein großer rotbäckiger junger Mann im gestreiften Leinenanzug des Lazaretts stürmte herein, die rechte Schulter dick gepolstert unter der Jacke, er schmetterte sofort in den Raum: »Richard, das Neuste, sie sind da, die Matrosen. Alles, was Beine hat, rennt.« Die Schwester hatte sich im Moment zu ihm umgedreht, die Hand des Kranken in ihrer, als zählte sie Puls. Der Besucher war am Bettgestell, einen starren Blick auf den Kranken, dessen weite Augen unverändert an der Schwester hingen. Er ließ das Eisengestell los, faßte sich an den Mund, sagte: »Oh, oh.« Die Schwester: »Schütteln Sie bitte nicht am Bett.« Er rannte hinaus. Auch sie ging, auf den Spitzen, den Verbandwagen vor sich.
    Der Kranke dämmerte allein. Die feinen Pflänzchen, die die Bleikugel aus der Luft und von der Jacke in seinen Leib getragen hat, durchwucherten seinen Leib. Sie überzogen alle Därme mit einem trüben Hauch und machten ihren Glanz blind. Graue Flocken sanken in die Nischen zwischen den Därmen, die sich noch zusammenzogen, hoben und senkten. In die Adern des Mannes waren die Pilze gewandert und hatten sich fröhlich von dem warmen Strom des Blutes forttreiben lassen, wie fühlten sie sich selig in dem süßen Saft, das war etwas anderes als das Leben an der kalten Luft und auf dem Tuch. Wie ein Orchester, das auf den Wink seines Kapellmeisters wartet, setzten sie sich rauschend in Bewegung. Und nun war der Mensch ein hohles gewaltiges Gewölbe geworden, durch das ihre Musik scholl. Er lag da, schlaff, schwitzend.
    An den Wänden des Gewölbes kriechen Schlingpflanzen, sie hängen in den Raum hinein, es ist ein Urwald, und dies sind die Tropen, und da klettern Affen, Untiere mit schrumpfligen Hälsen, sie steigen aus dem Morast, Kolibris schwirren mit gewundenen Schnäbeln, die Blumen halten ihnen ihre grellen Blüten hin und schnellen schmale rote Zungen heraus. Nun spielt eine Orgel, und von den Tonleitern steigen ernste Männer herunter im Talar. Lange Schleppen ziehen sie hinter sich her, sie predigen und ermahnen, es ist ein langes schwarzes Lied.
    Das graue Tageslicht draußen hellt sich auf. Die Stunden rücken vor. Ein Tag hat sich in Bewegung gesetzt, der 10.November, Sonntag. Kleine Sonnenstrahlen schleichen über das Bett.
    Schwestern kommen, stützen den Kopf des Fliegers, halten Wein vor seinen Mund. Sein Gesicht – wessen Gesicht – wird länger und länger. Seine Lippen fallen auseinander. Er öffnet den Mund nicht. Sie rufen. Sie rufen ihn an.
    Aber der Urwald hat ihn verschlungen.

    Das Nebenzimmer, das dem Oberleutnant Becker und dem jungen Leutnant Maus gehörte, dem rotbäckigen, der in das Zimmer des Fliegers gedrungen war.
    Maus öffnete, als er zurückkam, langsam die Tür und schloß sie langsam. Von seinem Liegestuhl her, am Fenster, sah ihm Becker zu. Er wartete, bis Maus an den kleinen Tisch geschlichen war, der quer vor ihren beiden Betten stand. Als Maus noch immer nichts sagte, drehte Becker brüsk den Kopf zum Fenster und fragte geschäftsmäßig: »Was gibt es Neues?« Maus, den verstörten Blick auf den Tisch: »Mit Richard ist es aus.« Becker: »So?« und fixierte wieder die kahlen Äste draußen. Dann sagte er zu Maus: »Setz dich.« Der ließ sich automatisch auf den Stuhl am Tisch nieder. »Du sitzt auf Zeitungen«, bemerkte Becker.
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