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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
Autoren: Alfred Döblin
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sich schloß – der Raum war leer –, stellte Hilde sich an die Wand. Die weißen Kacheln kälteten ihren Rücken. Sie bewegte sich von der Wand, besah sich in dem breiten viereckigen Spiegel über dem großen Waschbecken der Ärzte, sie hatte eine flache weiße Haube auf, über beiden Ohren hingen ihr hellblonde schlichte Haare, sie strich sie zurück.
    Kein Blick auf das graublasse, jetzt schlaffe, volle Gesicht, in die leeren Augen. Wie verbraucht man ist mit seinen vierundzwanzig Jahren. Der Krieg. Erst jetzt, am Ende, fiel es über sie.
    Langsam schleppte sie sich aus dem Operationssaal in den großen Saal zurück, wo die zerrissenen Reste des Krieges in den Betten lagen und sich wanden. Sie setzte sich an den mächtigen Mitteltisch, vor die Krankengeschichten, Thermometer und Salbentöpfe, und stierte ins Leere. Es war ein stürmischer, aber sonniger Tag geworden. Sie schlich schwerfällig in die Küche, hackte Eis für Eisbeutel und füllte zwei. Die hängte sie den beiden Hirnerschütterungen an die Schnur und legte die Handtücher über die Köpfe. Heute würde keine Visite kommen.

    Frau Hegen war mit dem Korridor fertig. Sie klopfte links an das erste Einzelzimmer, die beiden Herrn, Becker und Maus, hörten mit ihrem Gespräch auf und nahmen die Beine beiseite. Maus setzte sich auf den kleinen Tisch und drängte sie zur Eile. Sie klopfte im Nebenzimmer an. Als keiner antwortete, öffnete sie. Der Raum leer, Medizinflaschen auf dem Tisch, die Temperaturkurve, ein Kartenspiel, Gläser, ein zerknülltes Handtuch, alles durcheinander. Das Fenster weit offen. Kein Bett, kein Kranker. Sie fing an zu schrubbern. Dann holte sie neues Wasser und begann die Leichenkammer.
    Zwei weiß überzogene Betten standen da dicht nebeneinander, die Bettstangen, an denen sonst Kurve und Handtuch hingen, ragten leer in die Luft wie Fahnenstangen. Sie arbeitete an den Betten, so gut sie konnte. Ihr Sohn war längst umgekommen, vor zwanzig Jahren, bei Saarbrücken, Grubenunglück. Die jungen Leute von heute sterben im Krieg oder im Lazarett. Sie wirtschaftete unter den Betten mit ihrem Schrubber. Sie kam ins Gespräch mit den beiden, die da lagen: »Regt euch nicht auf, es ist ganz gut, wir machen’s alle so, meine Mutter ist schon lange weg, und die Großeltern.« Plötzlich unterhielt sie sich mit ihrem Sohn, er war zu Besuch nach Hause gekommen: »Was kochen sie in Saarbrücken? Hammelfleisch? Ihr mit euerm Hammelfleisch, Vater mag es auch, ich muß ihm das Fleisch kleinschneiden, er hat keinen Zahn. Was er sonst macht? Nicht viel. Sitzt in seiner Stube und raucht. Rauch nicht zuviel, macht die Zähne schlecht, er hat bloß Stummel.« Sie sah Albert, einen kleinen Jungen, unten in der Ecke, eine Kinderpeitsche im Händchen, einen Kreisel zwischen den Beinchen.
    Sie schrubberte und stieß gegen die Bettfüße.

    Als die jungen Soldaten mit roten Bändern um den linken Arm vor dem Lazarett aufzogen, ging sie im Verwaltungsgebäude die Treppe herunter, an dem Pförtner vorbei, der ihr aufgeregt zuwinkte: »Achtung, Mutter Hegen, kommen Sie rein zu mir.« Sie klinkte ruhig die Tür auf, ein heftiger Windstoß, sie schlug hinter ihr zu, die Leute zogen neben ihr die Klingel. Ein Schreien, Rufen, zwei von den Männern trugen Gewehre auf dem Rücken, den Kolben aufwärts, sie machten ihr Platz, sie knotete sich ihr Tuch auf der Brust fest und klapperte auf die andere Seite, kletterte über den Chausseegraben. Sie hatte eine Kaninchenfalle im Wald.

    Die jungen Soldaten blieben auf der Treppe im Verwaltungsgebäude und verlangten den Chefarzt. Er mußte von der Infektionsstation geholt werden. Er ging mit zweien von den Männern und in Begleitung seines Sanitätsfeldwebels durch die Räume des Lazaretts. Die beiden Leute stellten sich als Soldatenräte der Garnison vor. Der Chefarzt wagte während der ganzen Visite weder seinem Feldwebel noch den Schwestern ins Gesicht zu blicken. Er dachte nicht an sein Herz noch an seine Stiefel. Er war betäubt. Er fühlte seinen Körper nicht. Er zeigte den Soldaten, was sie wollten, in einem automatisch apathischen Ton. Sie glaubten, er stelle sich schwerhörig, aber er hörte wirklich nicht. Der Himmel stürzte ein. Auf jede Bemerkung der Soldaten antwortete er: »Wie beliebt.« Beim Eintritt in jeden Krankensaal (die Wachsäle vermieden sie) rief der ältere der beiden Soldatenräte: »Hier ist der Soldatenrat der Garnison. Hat jemand etwas zu melden?« Worauf Totenstille eintrat, hier und da
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