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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
Autoren: Alfred Döblin
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überzog, hauchte sie einen Kuß auf die Backe des kleinen ernsten Mannes, der wie erstarrt war.

    Als sie im Lazarett den Gefangenen, einen Hausdiener aus Kaiserslautern, ein paar Stunden allein in seiner Zelle hatten rumoren lassen und keiner ihm Essen brachte, fing er an, gegen die Tür zu hämmern. Die im Nachbarsaal hörten ihn, ließen ihn aber toben. Er hatte es wegen seines Verhaltens gegen den Soldatenrat mit ihnen verdorben. Schließlich, am Nachmittag, holten sie einen Sanitäter, der mit einem andern die Zelle öffnete. Der beschmierte Mann in der Ecke der Zelle hatte sein Bett hochgetürmt und schrie sie schwer erschöpft von hinten über seinen Berg hinweg an: »Fressen, Fressen!« Er sah grausig aus. Er roch furchtbar. Die beiden Sanitäter öffneten erst im Korridor die Fenster und ließen die Zelle auslüften. Währenddessen brüllte der Mann hinter seiner Barrikade. Dann meinte einer friedlich: »Ziweck, wozu machst du eigentlich noch Theater. Hast doch nicht mehr nötig.« Er schrie weiter. Die Sanitäter lächelten sich an. Sie fingen ihn, indem sie von beiden Seiten das Bett umgingen, zerrten ihn mit Hilfe zweier Kranken auf den Korridor, es war ein wilder Aufzug, stießen ihn vor das offene Fenster, das ging auf den Hof und die Baracken hinaus. Da hatten die Chirurgische und Infektionsabteilung rot geflaggt, ja aus dem Operationssaal hatte man zwei kleine Kinderfahnen gesteckt. Sie zeigten sie ihm. Er hielt die Augen zugekniffen.
    Jetzt fühlten sie, daß er nicht mehr spannte. Sie konnten ihn hinten loslassen. Er stand allein. Sein Gesicht wurde ängstlich, er blickte mißtrauisch von einem zum andern. Ein Kranker rief: »Bring ihm doch mal die Zeitung.« Man hielt sie ihm hin. Man zeigte ihm mit dem Finger die Nachrichten, Aufrufe. Gierig las er, stand schon allein.
    Wie vom Blitz getroffen lag er auf dem Boden.
    Er zuckte und schäumte. Die Sanitäter bückten sich über ihn, bespritzten ihn mit Wasser: »Heil ist der aber doch nicht.« Sie gossen einen ganzen kalten Eimer über ihn, der Korridor schwamm, zitternd rappelte sich der Mann hoch. Sie führten ihn in ein leeres Krankenbett, da schlief er bis zum Abend. Dann spielte er mürrisch mit den andern Karten und rauchte.

    Im Finstern klapperte Frau Hegen, trotz ihres Schirms pitschnaß, über den Wasserturmplatz, über den Hof und stellte ihre Pantinen im Korridor ab. Sie war erstaunt, in ihrer Wohnung laut sprechen zu hören. Die tiefe Stimme des Pfarrers. Die Frau trug ihren Eimer hinter ihr Häuschen, unter das Vordach eines Schuppens, legte über den Eimer einen schweren großen Holzdeckel. Wie sie den Schirm im Hausflur offen hingestellt hatte und mit ihrem großen Tuch über dem Arm die Tür zur Wohnung aufklinkte, war es drin still.
    Die Gasflamme an der Decke in der Milchglasglocke gab ein schwaches rötliches Licht. Aus dem Stuhl hinter dem Tisch erhob sich eine große starke männliche Gestalt, das gesunde volle Gesicht lächelte die Frau mit einer freundlichen Verlegenheit an, der Herr in der dicken braunen Flauschjacke reichte der Frau seine mächtige Hand über den Tisch und sagte leise, mit einer geübten würdigen Stimme: »Da sehen Sie mich, meine gute Frau Hegen, als Gast in Ihrer Wohnung. Ich leiste Ihrem Mann Gesellschaft.« Die Frau blickte sich im Raum nach ihrem Mann um, er saß im Dunkeln auf dem Bettrand und hob eine Krücke: »Wir warten auf dich, Frau. Was du für Neuigkeiten bringst.« Sie sagte zum Pfarrer: »Ich hab’ nasse Hände.« »Ja, das Unwetter«, und er setzte sich wieder. Der Mann: »Herr Pfarrer meint, das Wetter ist grade gut für die Unruhen. Da bleiben die Leute zu Haus.« »Welche Unruhen?« fragte die Frau, sie hängte ihr nasses Tuch über einen Stuhl am eisernen Ofen. Der Mann hinten: »Herr Pfarrer möchte wissen, was in der Stadt los ist.« »Meine gute Frau Hegen, wir waren besorgt um Sie, weil Sie so spät kommen. Sie sind wohl nicht durchgekommen? Halten die Leute noch die Chaussee besetzt?« Die Frau murmelte, indem sie sich die Hände trocknete: »Was ist los, was ist los.« »Na erzähl doch, Frau.« Die sind alle verrückt, morgens stellen die Rekruten keine Schildwache vor die Schule, abends setzt sich der Pfarrer hierher. Nein, die Chaussee war wie immer, sie hatte dem blinden Hauptmann beim Packen geholfen. »Aha«, machte der Pfarrer und nickte dem Mann zu. Eine lange Pause. »Nun, dann will ich nicht weiter stören.« Die alte Frau machte ihm die Tür auf.
    Der Mann humpelte
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