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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen
Autoren: Heike Vullriede
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verbringen musste? 'Man müsste eine Wahl haben', dachte er sich. Eine Wahl, solche Tage ganz an das Ende des Lebens zu hängen und sie bei Bedarf ersatzlos zu streichen. Doch - hätte man ihn gestern noch vor die Wahl gestellt - hätte er diesen Tag wirklich so schnell aufgegeben? Er sah sich um. Die Sonne schien hell und freundlich durch das Fenster. Heute ging es ihm doch schon wieder besser! Die Übelkeit hielt sich in Grenzen und von dem Ding in seinem Kopf spürte er nichts. Nein – das Leben war ihm noch zu kostbar, als dass er nach einem einzigen schlechten Tag schon die Hoffnung aufgeben wollte. Sein Magen war da, was man ja eigentlich nicht spüren sollte, aber nun gut. Mehr war es auch nicht. Das Leben hatte ihn zurück.
    Bald war es Essenszeit. Schülerin Elke brachte je ein Tablett für den Herrn aus dem Nachbarbett und eins für Marvin. Er beobachtete sie, während sie ihre Arbeit verrichtete. Eilig kam sie zu seinem Nachtschrank und stellte das Tablett darauf ab. Auf der hellen Haut ihrer Unterarme entdeckte er unzählbar viele Sommersprossen, und wie die letzten Male, wenn sie das Zimmer betrat, schmückte ein mitreißendes Lächeln ihr Gesicht. Marvin fand es unwiderstehlich. Mit Schwung hob sie diese Art unappetitliche Edelstahlhaube vom Teller, die wohl in jedem Krankenhaus der Welt das Essen warmhielt. Diese Hauben, die niemals frei von Fettfingern waren, schienen ihm nur dazu da, die dargebotene Großküchenspeise verschämt zu verstecken.
    Überraschung! Eine Suppe und weißes Brot.
    »Na, Herr Abel was halten Sie davon?«
    Marvin warf einen Blick auf die grünliche Brühe. Allein die einzeln darin schwimmenden Gemüsebröckchen erinnerten ihn an seine Übelkeit von gestern. Er winkte ab.
    »Nehmen Sie wenigstens etwas Brot!«
    Sie spielte ein extra trauriges Gesicht.
    »Mir wird schon schlecht, wenn ich daran denke!«, sagte er, fügte jedoch schnell hinzu: »Nicht, wenn ich an Sie denke, natürlich. Wo Sie auftauchen, scheint sicher immer die Sonne.«
    Elke lachte, herzlich und ein bisschen geniert. Auf seine Schmeichelei ging sie aber nicht wie gehofft ein, sondern klemmte das Tablett zwischen Arm und Brustkorb ein und mahnte mit erhobenem Zeigefinger.
    »Sie müssen aber viel trinken. Das ist ein ärztlicher Befehl! Vielleicht mögen Sie ja gleich noch essen.«
    Suppenteller und Brot ließ sie auf seinem Schränkchen zurück.
    »Solche Strenge passt aber gar nicht zu einer so hübschen Frau!«, charmierte er hinter ihr her. Sie überging es lächelnd.
    Es machte immer noch Spaß, ein wenig zu schäkern, trotz seines Unwohlseins.
    Kaum war sie draußen, stichelte sein Nachbar.
    »Na - uns geht's ja wieder besser!«
    Sein Zimmergenosse, selbst Mann und ebenfalls wohl noch nicht krank genug, durchschaute sein Flirtspiel natürlich.
    »Es gibt Körperteile, die sterben zuletzt.«
    Chauvinistisch schmunzelten sie beide.
    Ja, es ging ihm heute wieder gut genug, um sich als Mann zu fühlen. Aber insgeheim fürchtete Marvin zum ersten Mal in seinem Leben, dass es ihm eines Tages egal sein könnte, wie eine junge hübsche Frau über ihn dachte. War es nicht gestern schon so gewesen, als sie ihn ins Bett gehievt hatten? War Krankheit nicht schrecklich unerotisch? Ein zerfallender Körper unattraktiv, ein gelähmter Geist reizlos? Vielleicht erinnerte Solches ja an das Ende des Betrachters selbst, weshalb man es nicht mit ansehen mochte. Oder aber, es war ein Zwangsgedanke im Sinne der Evolution.
    Marvin hielt es jedenfalls für ein gutes Zeichen, sein Bedürfnis zu schäkern noch nicht verloren zu haben. Er lehnte sich zurück und dachte an zärtliche Stunden mit Lisa. Sie waren ausnahmslos schön gewesen. Nur öfter hätte es sein können, für ihn jedenfalls. Ob es stimmte, dass ein Mann alle paar Minuten an Erotik dachte, wie manche sagten? Er sah sich nicht als Sexprotz. Dennoch war es für ihn kein Problem, von einem Moment zum anderen an Sex zu denken. Selbst, wenn er sich am Arbeitsplatz mit einer schwierigen Fragestellung beschäftigte, fiel es ihm ohne Übergang leicht, sich zwischendurch auf die warmen Schenkel seiner Frau am Abend zu freuen. In seinem Fall sollten sie wohl recht behalten, die Forscher, welche behaupteten, dem Mann gingen im Laufe der Evolution die Instinkte nicht verloren. Wie ein dauerbrünstiger Eber würde er seine Gene verteilen, wenn ihn nicht die Treue an seine geliebte Lisa knüpfte.
    Die Gedanken mit Ebern und Frauen gefüllt, träumte sich Marvin, mehr oder
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