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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen
Autoren: Heike Vullriede
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und geglättet, sein Nachttisch flüchtig abgewischt, ein neues Glas und Mineralwasser darauf gestellt, sein Gewicht gemessen. Sie zogen die Waage unter seinem Hintern weg, und nachdem das Ganze mit seinem Nachbarn genauso passiert war, verschwand der Spuk und die Stille eroberte den Raum zurück.
    Noch immer ganz benommen schlich Marvin zurück ins Bett. Jetzt erst bemerkte er aus den Untiefen seines schlaftrunkenen Geistes, dass er sich gar nicht wohlfühlte. Also nun doch die angedrohte Übelkeit? Schon spürte er Brechreiz in sich aufsteigen. Marvin entschied sich, lieber ein Glas des frischen Mineralwassers zu trinken, sich auf die Seite zu legen und die Decke wie ein Kind über die Ohren zu ziehen. Dann schloss er die Lider. Vielleicht könnte er die Übelkeit ja einfach verschlafen.
    Nach ein paar heftigen Drehungen im Bett hielt Marvin es nicht mehr aus. Er hastete barfuß zur Toilette, riss den Klodeckel auf und blieb darüber stehen.
    Ein unaufhaltsames Kribbeln erfüllte seine Wangentaschen, dann floss der Speichel quellartig in seinem Mund zusammen. Beim Versuch zu schlucken, würgte er das erste Mal. Erschrocken beugte er den Kopf tiefer. Liebe Güte, das letzte Mal, als er sich erbrochen hatte, war er ein Kind gewesen. Der Blick in die Kloschüssel tat dann das Übrige. Mit einem Schwall entleerte er sich fast vollständig, wässrig. Den Rest würgte er in kleinen Pfützen hinterher. Es schmeckte sauer.
    Nur gut, dass er zuvor dieses Glas Wasser getrunken hatte. Marvin spülte sich am Waschbecken den Mund aus, inspizierte seinen Schlafanzug nach unangenehmen Spuren und bewegte sich räuspernd zurück zum Bett. Sein Magen drückte.
    Noch bevor er das Bett erreichte, rannte er schon wieder los. Nochmals Erbrechen! Doch diesmal gab es nichts, das er hätte ausspeien können. Was für eine Qual! Er spuckte von sich, was er konnte. Entkräftet und diesmal gleichgültig gegenüber seiner Kleidung, schleppte er sich aus dem Bad. Aber bereits nach wenigen Schritten zwang ihn sein Körper zurück.
    So verging sein Vormittag. Erschöpftes Liegen, Aufstehen, zum Klo rennen – Erbrechen und wieder Hinlegen. Es war ein ständiges Loslaufen, ein Kreislauf zwischen Trinken und Erbrechen. Die Schwestern zuckten die Schultern, brachten Brechschalen und Getränke.
    Schließlich ließ ihn der ungestillte Würgereiz in die Knie gehen und die fremde Kloschüssel umarmen. Es war ihm völlig egal. Er wollte sich vom Boden hochstemmen und etwas Wasser aus dem Kran nehmen. Aber seine Beine schafften es nicht mehr. Marvin würgte, bis die Rippen schmerzten, und so lange, bis er vor Entkräftung zur Ruhe kam.
    Irgendwann spürte er von hinten Hände unter seinen Achseln und sah das Gesicht einer blonden Krankenschwester vor sich. Man hievte ihn zu zweit auf einen fahrbaren Toilettenstuhl und von diesem zurück auf sein Bett. Zu seiner Verwunderung gehörten die helfenden Hände unter den Achseln seinem Bettnachbarn, dem die körperliche Anstrengung einen schnaufenden hochroten Kopf bescherte. Marvin versuchte, einen dankbaren Blick auf ihn zu richten.
    Wenig später schloss die Ärztin ihn wieder an einen Tropf an.
    »Gegen die Übelkeit!«, sagte sie sachlich. »Bis später!«
    Damit ließ sie ihn für den Rest des Tages zurück im Krankenbett, mit einem Geschmack von Saurem im Mund und trockenen Lippen. Nun kamen Stunde für Stunde Schwestern, um seinen Arm mit der Blutdruckmanschette zu zerquetschen. Er nahm es hin. Die Medikamente aus dem Tropf ließen ihn dann nahezu gedankenlos vor sich hindösen. Das Einzige, was ihm nun zwischen Schlafen und Dösen in den Sinn kam, war, dass man also auch so einen Tag kostbarer Lebenszeit zubringen konnte. Vielleicht war auch Lisa abends da. Ihr Gesicht jedenfalls sah er vor sich, bevor er wieder einschlief.
    Erst am nächsten Vormittag erwachte Marvin richtig aus seiner gefühllosen Ruhe. Die Welt erhielt seinen Geist zurück, nicht von der üblichen Schwere zwar, aber in einer Leichtigkeit, die der eines normalen morgendlichen Erwachens glich. Ungebeten meldete sich bald der von den Medikamenten unterdrückte Brechreiz zurück. Nicht so stark wie gestern, jedoch schlummernd und bereit, durch eine passende Gelegenheit geweckt zu werden. Marvin versuchte, ihn zu vergessen, und kramte lustlos in seinem Bettschrank herum. Lauter Mist und nichts Richtiges zum Lesen! Er ließ es und starrte unbeweglich auf das Gelb seiner Bettdecke. Was, wenn er den Rest seines Lebens mit Übelkeit
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