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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen
Autoren: Heike Vullriede
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Nichts ging mehr.«
    Über Staus – und Verkehr überhaupt – konnte sich Lisa stets maßlos aufregen. Trotzdem hatte sie heute extra an einem Kiosk gehalten, um ihm etwas zu Lesen mitzubringen. Es überraschte ihn, doch nach einem Blick auf die dicke Lektüre, die sie ihm überreichte, konnte er sein Missfallen nicht verbergen. Marvin zog die Stirn kraus.
    »Ein Rätselheft?«
    ‚Typisch Lisa’, dachte er und erinnerte sich an die flüchtig gekauften Rätselhefte, mit denen sie ihrer Großmutter bei ihren Besuchen eine Freude machen wollte.
    »Schon mal was von Gehirnjogging gehört?«, entgegnete Lisa angespannt.
    Gehirnjogging! Er schmunzelte.
    »Lisa, mal ehrlich – wer sollte sich mit diesen einfachen Denkspielen geistig fit halten? Ein bisschen mehr intellektuelles Niveau würde nicht schaden. Hältst du mich für einen senilen Mann?«
    »Dass du immer alles so überbewerten musst! Du musst dich, krank, wie du bist, nicht auch noch mit hochgestochener, todernster Literatur befassen. Reine Unterhaltung würde dir jetzt wirklich mal gut tun!«
    Marvin legte das Omaheft nachsichtig lächelnd in den Nachtschrank, und zwar ganz nach unten, ziemlich sicher, es nie zu benutzen.
    »Ist ja schon gut. Danke, dass du noch gekommen bist.«
    »Nichts ist gut!« Sie war schrecklich gereizt. Ihre Stimme klang hoch und schnell. »Du bist hier im Krankenhaus. Das ist kein Ort, schon wieder den 'Intellektuellen' heraushängen zu lassen!«
    Das schadenfrohe Grinsen seines Bettnachbarn bei den letzten Worten entging Marvin aus dem Augenwinkel nicht. Er durfte wohl nicht annehmen, dass dieser Kerl das Zimmer von sich aus pietätvoll verlassen würde, um mögliche intime Gespräche zwischen ihm und Lisa nicht unbeabsichtigt mitzubekommen. Stattdessen lag der Schnarchsack jetzt mit seinem breiten Gesicht Marvins Bett offen zugewandt und freute sich auf interessante Wortgefechte.
    »Gibt es nichts im Fernsehen, das Sie interessiert?«, fragte Marvin wenig freundlich.
    Schnarchsack verzog den Mund, aber scheinbar hatte er verstanden. Er setzte sich auf, fummelte ungeschickt mit den Füßen in seinen ausgelatschten karierten Schlupfpantoffel herum, verstaute auch den letzten Zeh darin, und stand schließlich so schwerfällig auf, als erwartete er, dass man ihm zu Hilfe käme. Sie halfen ihm nicht. Mit bitterer Miene nahm er also seinen Morgenmantel vom Fußende des Bettes, zog ihn gemächlich an und setzte sich Nervenzehrend langsam in Bewegung. Wortlos schlurfte er an ihnen vorbei und verließ tatsächlich den Raum.
    »Da hast du es!«, sagte Lisa, in Richtung Tür blickend. »Deinen Leidensgenossen hast du bereits vergrault.«
    »Wieso Leidensgenosse? Ich weiß ja gar nicht, was der hat.«
    »Du hast ihn nicht gefragt, warum er hier ist?«
    Lisa schüttelte den Kopf. Dann begann sie, ihren Tag zu schildern. Sie erzählte von einer Auseinandersetzung auf einem Meeting in der Firma, von ihrem peinlichen Verschlucken in Gegenwart ihrer auswärtigen Besucher während der Mittagspause im Restaurant und von ihrem chaotischen Heimweg.
    »Ich bin fix und fertig!«
    Sie redete lange, aber schnell, so wie alles in ihrem Leben schnell gehen musste. Als sie gerade pausierte, setzte Marvin an, um über seinen Tag im Krankenhaus zu berichten. Doch Lisa stand schon wieder auf. Ihre Tasche bereits in der Hand, durchwühlte sie sie fahrig, bis sie ihren Autoschlüssel aus den Tiefen des Futterals bergen konnte.
    »Hörst du mir gar nicht zu?«, fragte er.
    »Entschuldige! Ich bin todmüde und würde lieber Morgen wieder kommen, wenn das in Ordnung ist. Hier bist du ja gut aufgehoben. Bis Morgen, Schatz.«
    Diesmal bekam er einen Kuss auf die Stirn geschmatzt und schon verschwand sie. Was blieb, war wieder nur ein süßer Duft und so viel Unberichtetes von seinem ersten Tag im Krankenhaus. Zwei Minuten später latschte Schnarchsack zurück ins Zimmer und legte sich hin. Marvin sah ihm nicht ins Gesicht, aber er fragte sich nun, weshalb der Kerl wohl hier war.

    *

    Am nächsten Morgen wurde Marvin um sieben Uhr von drei lebhaften Krankenschwestern überfallen. Kaum, dass er vom Schlaf zu Bewusstsein gelangt war, maß die eine ihm Blutdruck an dem linken und die andere den Puls am rechten Arm. Die Dritte fuhr eine Waage ins Zimmer, die aussah wie ein Rollstuhl und dann drängten sie ihn aus dem Bett. Marvin schnappte sich schnell noch seinen Morgenmantel und ließ sich auf den Sitz der Waage fallen. Währenddessen wurde sein Bettzeug geschüttelt
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