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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen
Autoren: Heike Vullriede
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wahrscheinlich als helfender Engel dem nächsten Patienten zu.
    Später brachte sie Marvin eine salzige Brühe und half ihm doch noch ein wenig mit der Tasche. Jetzt war er froh, dass er diese einwandfreie neue Wäsche mit sich führte. Er fühlte sich gut aufgehoben.
    Noch später kam eine Ärztin. Eine herbe, junge und ernste Frau. Schlank, fast schon hager, sah sie aus. Etwas zu blond für seinen Geschmack und die Haare zu streng nach hinten frisiert. Sie befestigte eine Infusion an seinem linken Arm und kündigte ihm Übelkeit an. Danach blieb ihm nichts weiter zu tun, als ruhig in seinem Bett zu liegen. Verurteilt, zu lesen, vielleicht etwas fern zu sehen oder die Tropfen zu beobachten, die langsam einer nach dem anderen in seinem Arm verschwanden. Er beobachtete sie lange, weil er von irgendwo her wusste, Luftblasen in den Adern seien gefährlich. Währenddessen wartete er auf die Übelkeit. Doch sie blieb aus.
    Nach der ersten geleerten Infusionsflasche drückte Marvin auf den roten Knopf der Fernbedienung. Sofort meldete sich eine blechern und schwer verständliche weibliche Stimme aus einem Lautsprecher hinter seinem Bett, die nachfragte, was er wünsche. Marvin teilte mit, die Infusion wäre durch und erwartete sehnlichst eine Schwester, weil er zur Toilette musste. Die Stimme aus dem Lautsprecher weckte seinen Bettnachbarn. Der lag auf der Seite – jetzt, wo er nicht mehr schnarchte! –, eine Hand gelangweilt unter seine Wange gestützt und musterte Marvin ungeniert.
    »Zytostatikum?«, fragte er schließlich.
    »Ja – Chemo!«, antwortete Marvin ebenso kurz.
    »Sag’ ich doch – Zytostatikum!«
    Anscheinend wollte der Schnarcher ihm klarmachen, er besäße Fachkenntnisse, die Marvin fehlten. Aber geschnitten, da konnte er mithalten.
    »PCV bei Glioblastom!«, renommierte er und fügte hinzu, »Bestrahlung später mit 30 x 2 Gray!«
    Das sollte wohl genügen, um dem Kontrahenten sein Fachwissen zu verdeutlichen und gar nicht erst Zweifel an seiner Kompetenz als aufgeklärtem Patienten aufkommen zu lassen. Tatsächlich nickte der Bettnachbar ernst wissend und beließ es dabei. Zufrieden mit sich selbst, ließ sich Marvin in das Kissen sinken. Sein Platz im Zimmer sollte wohl erobert sein. Schlimm genug, dass er dieses Zimmer mit jemandem teilen musste.
    Fünf Minuten später stand der Mitstreiter schwerfällig auf, schlüpfte in seine Pantoffeln und schlurfte an Marvins Bett vorbei zur Toilette. Wie einen Wallach hörte er ihn im Bad pinkeln und es erinnerte ihn deutlich daran, ebenfalls seit einiger Zeit Druck zu verspüren. Wo blieb nur die Schwester? Er griff zur Fernbedienung und drückte nach einigem Zögern wieder den roten Knopf.
    »Die Infusion ist durch!«, erklärte er erneut der Blech-Schwester aus dem Lautsprecher und neidvoll blickte er auf den Schnarchsack, der erleichtert aus dem Bad zurückkam.
    »Da können Sie lange warten!«, meinte dieser im Vorübergehen, womit er nicht nur Recht haben konnte, sondern ihm auch zu Verstehen gab, dass er sich hier im Krankenzimmer als alter Hase selbstverständlich besser mit den Vorgängen auskannte als Marvin. Sollte er doch! Marvin wies auf die Infusionsapparatur, die an seinem Arm hing. So gefangen konnte er schließlich nicht aufstehen.
    »Warum ziehen Sie sich das nicht selbst raus?«, meinte der alte Hase lapidar. »Einfach rausziehen und Tupfer drauf drücken. Tupfer liegen doch dort in der Schale auf ihrem Nachtschrank. Machen die Schwestern auch nicht anders!«
    Damit legte sich der Hase wieder ins Bett, kehrte Marvin den Rücken zu und machte sich daran, weiter zu schnarchen.
    Marvin betrachtete die mit ein paar weißen Klebestreifen fixierte Infusionsnadel an seinem Arm und fing nach einer Weile an, die Streifen abzuknibbeln. Schön vorsichtig, immer ein bisschen mehr. Warum nicht etwas vorarbeiten, bevor die Schwester käme. Und wenn dann immer noch niemand in Sicht wäre, könnte er sich ja auch ganz davon befreien. Schließlich war er ein erwachsener Mensch, und außerdem spannte die Blase.
    Gänzlich vom Klebestreifen gelöst, stellte sich die Nadel als Bestandteil einer kleinen durchsichtigen Plastikplatte dar. Das sah kompliziert aus und er fragte sich, wie er mit nur einer Hand die Nadel herausziehen und gleichzeitig einen Tupfer darauf drücken sollte. Egal, er musste zur Toilette, nur das hatte Vorrang. Womöglich dachte der Patient am Fenster auch schon, Marvin wäre zimperlich. Kurz entschlossen zog er an der Plastikplatte,
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