Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen
Autoren: Heike Vullriede
Vom Netzwerk:
unerreichbar für ihn, am Griff des mit Medikamenten und abgestandenem Tee überladenen Rollcontainers hingen. Buchheim streckte seinen Arm danach aus, doch der Ständer mit dem Tropf stand dazwischen und versperrte ihm den Weg. Resigniert gab er auf. Was wollte er auch hören von einem Fernsehkoch, während er selbst noch immer mit Sondennahrung durch die Bauchdecke aufgepäppelt wurde?
    Er hatte keine Schmerzen. Lediglich die von Nadeln zerstochenen Armbeugen machten sich bemerkbar. Den Schlauch der Sonde spürte er ja nicht. Es war überhaupt viel zu wenig, was er noch spürte.
    Sein Blick wanderte von dem Fernseher über die kahle Wand zum halb verhangenen Fenster. Baumkronen! Nichts als leicht schneebedeckte Wipfel irgendwelcher Laubbäume. Vermutlich war da unten sogar ein netter zugefrorener Teich, den er vom Bett aus nicht sehen konnte.
    Josefin konnte damals den Teich hinter ihrer Klinik auch nicht sehen …
    Mit dem linken Ellenbogen drückte er seinen Oberkörper angestrengt ein paar Zentimeter aufrechter ins Kissen.
    Josefin … gefangen im Bett, an der Atmungsmaschine, gelähmt vom Hals abwärts. Ein Autounfall war schuld, verursacht durch eine leichtsinnige Fahranfängerin. Im gegnerischen Auto gab es keine Überlebenden, sonst hätte er sich vielleicht in so etwas wie Rache stürzen können, aber so wurde daraus das Haus der Verlorenen .
    Bis zum Schluss hatte seine Frau klar denken können und gerade das als das Schlimmste empfunden. Einunddreißig Jahre war sie jung gewesen, als es geschah, im fünften Monat schwanger … ein Junge sollte es werden …
    Buchheim schloss die Augen, sah sie vor sich – wie sie weinte, schrie, nicht einmal fähig, sich selbst die Tränen abzuwischen – angewiesen auf seine Hilfe und die der Pfleger, ohne Aussicht auf ein anderes Leben, jahrelang. Angewiesen, gewaschen zu werden, gefüttert zu werden, beatmet zu werden.
    Er wollte ihr die Schönheit des Lebens vermitteln, egal, wie es sich gestalten sollte. Doch sie wollte sterben, aber durfte es nicht und er musste hilflos zusehen, konnte nicht durchsetzen, dass man die Maschine abschaltete, wie sie es wünschte … bis sie schließlich an einer Lungenentzündung verstarb …
    Er hatte versagt, hatte sie leiden lassen, anstatt zu handeln; er hätte den Stecker ziehen sollen, aber es nicht gewagt.
    Ihr Tod war die Geburt seines Vereins: das Haus der Verlorenen. Sollte nicht jeder sterben dürfen, wie und wann er es wollte? Wenn doch ein Mensch das Leben leid war? Es nicht mehr aushalten konnte? Er, Buchheim, ermöglichte das. Das war sein bescheidener Beitrag zu einer besseren Welt, eine Art Wiedergutmachung für Josefins Leiden.
    Gegen die seit einigen Jahren aufgekommenen Wettstreite, besonders seiner jüngeren Mitglieder, war er von Anfang an gewesen. Das waren nichts als Spielereien für ihn. Aber, Gott, warum denn nicht?
    Es gab immer wieder Menschen, welche die Regeln des Hauses infrage stellten, die den Sinn dieser ethischen Verantwortung, der er nachkam, nicht verstanden, wenn er sie darüber aufklärte.
    Mittlerweile hatte er ja ein sicheres Gespür für solche Quertreiber entwickelt, deren begrenztes Denkvermögen drohte, all das zu zerstören, was er aufgebaut hatte. Die sich einschlichen in seinen Verein und ihn betrügen wollten. Es war recht, ihnen die Zerstörung der Gemeinschaft zu vereiteln! Gestorben wären sie allesamt ohnehin. Nur den Zeitpunkt hatte er bestimmt, vorgezogen sozusagen, und dem ein oder anderen womöglich ein langes Leiden erspart. Eigentlich hätten sie ihm dankbar sein müssen. Sarah war so ein Mensch. Sie in die Gemeinschaft aufzunehmen, als Spielzeug von Jens, Alexander und Manuel – ein Fehler, den er nun bereute! Nein, diese Wettstreite durfte es nicht mehr geben!
    Buchheim versuchte, sich noch weiter nach oben zu zwingen, um sitzend seine Beine zu betrachten, aber er schaffte es nicht. Verbittert fasste er nach seinem Unterleib und den Oberschenkeln und spürte auch heute nichts.
    Was das bedeutete, wusste er, und er hasste sie jetzt schon – die helfenden Hände, denen er zur Last fallen würde; die jungen Menschen, die routiniert ihre Arbeit an ihm verrichten würden – es würden ja doch meist Frauen sein. Und sie würden nichts weiter in ihm sehen, als einen schlaffen alten Mann, dessen Darm ihm entweder die Peristaltik oder den Gehorsam verweigerte.
    Er hörte, wie jemand die Tür aufdrückte. Von draußen drang das Klappern von rollenden Geschirrwagen in das Zimmer und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher