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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen
Autoren: Heike Vullriede
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Spiegelschrankes gehört Ihnen.«
    Schwester Sabine vergaß, auf den blauen Punkt hinzuweisen, der sich auf dem Spiegelschrank befand.
    ‚Blaue Punkte’ – Marvin fühlte sich belustigt an seine Kindergartenzeit erinnert. Hektisch drückte ihm die zwar noch junge, aber schon irgendwie verbraucht wirkende Frau mit dem aschblonden Zopf noch ein paar Pappkarten in die Hand, auf denen er seine Essenswünsche ankreuzen sollte, und verschwand. Sie hatte es eilig.
    Allein mit seinem neuen winzigen Privatbereich, Bett mit Nachtschrank, einem schnarchenden Fremden und einer überdimensionierten Reisetasche, deren Inhalt er nie und nimmer in diesen schmalen Spind bekommen würde, blieb er erst einmal auf seinem Bett sitzen. Für die ersten Tage des Chemozyklus sollte er hier bleiben, damit die Nebenwirkungen besser überwacht werden konnten. Danach würde er sich zu Hause weiter quälen dürfen. Gemütlich war etwas anderes!
    Marvin betrachtete seinen Zimmergenossen mit dem schütteren Haar. Ein Mittvierziger schätzte er, blass zwar, aber er schien Marvin noch zu beleibt, um schwer krank zu sein. Er schlief und schnarchte mit zurückgefallenem Kinn, und der weit geöffnete Mund bot sicher Platz genug, um eine Magenspiegelung ohne Mundstück zu ermöglichen. Lippen und Nasenflügel bebten bei jedem gequälten Atemversuch. Natürlich lag der Mann auf dem Rücken, eine für die Schnarcherei bekanntermaßen bevorzugte Position.
    Marvin fand es nicht lustig, eher beschämend, denn er wusste genau, dass er ebenso aussah im Schlaf. Lisa hatte ihn einst hinterhältig gefilmt, um ihm sein Schnarchen zu beweisen. Es ließ sich seither nicht mehr bestreiten. Peinlich, so ausgeliefert auszusehen, aber sie in ähnlicher Weise abzubilden war ihm nicht gelungen. Lisa sah im Schlaf immer wie ein Engel aus. Sie schnarchte nie, höchstens in verschnupftem Zustand und dann auch nur ganz leise – geradezu süß – überhaupt nicht peinlich. Frauen sind die feineren Wesen, dachte er, wie so oft.
    Er nahm seine Handykamera und knipste ein Foto von seinem Bettnachbarn. Man wusste ja nicht, wozu das einmal gut sein könnte. Dann hielt er die Kamera hoch und machte ein Bild von sich selbst – zur Erinnerung an sein Gesicht vor der Chemo und an seine angegraute, aber immerhin noch ziemlich dichte Haarpracht; eine Tatsache, auf die er stolz war. Die Medikamente der Chemotherapie könnten ja zu Haarausfall führen, so hatte er gehört. Ekelhaft, der Gedanke an Haarbüschel, die sich mit den Fingern von der Kopfhaut abziehen ließen. Marvin hatte einiges über die Nebenwirkungen der Behandlung gelesen. Das meiste klang so unwirklich – so weit weg –, nicht vorstellbar für ihn. Aber das mit dem Haarausfall, das konnte er sich vorstellen. Es schien ihm gruselig greifbar und so abschreckend sichtbar.
    Eine andere, sehr junge, Schwester kam herein. Klein, zierlich und so blass, wie Rothaarige nun einmal sind. Sie drückte auf einen ominösen Knopf an der Wand und führte Zettel und Kugelschreiber mit sich. Um ihren Hals hing ein Blutdruckmessgerät.
    »Ich bin Schülerin Elke«, erklärte sie und augenblicklich verfiel Marvin dem offenen und freundlichen Lächeln, welches sie für ihn erübrigte, ganz im Gegensatz zu den anderen Schwestern. Ihre rotblonden Locken trug sie bis etwas über Kinnlänge und offen. Ein nettes Mädchen, die Kleine! Von ihren Augen, die Marvin so hellblau wie unbekümmert anstrahlten, ließ er sich gerne herauslocken aus seiner düsteren haarlosen Zukunftsvision. Die schlanke Taille und wohlgeformte Hüfte unter ihrem weißen Kittel entging ihm nicht.
    »Soll ich Ihnen mit Ihren Sachen helfen?«, fragte sie mit Blick auf die unausgepackte Reisetasche.
    Marvin wehrte ab. Nein, nein, es ginge schon. Er erzählte ihr, während sie seinen Blutdruck maß, dass es ihm eigentlich ganz gut ginge. Wenn da nur nicht dieser zufällig festgestellte Tumor in seinem Kopf wäre, weshalb er jetzt eine Chemotherapie bräuchte und so weiter. Er redete viel. Mehr als er es sonst tat. Erzählte von seinem Blutdruck, wohl wissend, es interessierte eigentlich niemanden.
    »Und jetzt haben Sie einen Blutdruck von 140 zu 80 – der ist nicht einmal zu hoch!«
    Schülerin Elke lachte. Marvin lachte. Und beide schmunzelten noch kurz über das Schnarchen des Bettnachbarn. Sie hoffte für ihn, er könnte wenigstens nachts schlafen bei dieser lautstarken Baumsägerei. Danach verschwand sie aus dem Zimmer. Zauberhaft lächelnd schwebte sie
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