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Noras Erziehung

Noras Erziehung

Titel: Noras Erziehung
Autoren: Monica Belle
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düsteren Schacht bildete. Meine Treppe, Nummer vier, befand sich an der gegenüberliegenden Seite, und ich war mir bereits sicher, dass mein Zimmer die Nummer neun in der obersten Etage sein musste. Ich stand einen Moment hilflos da und hoffte, dass irgendein Gentleman vorbeikommen und anbieten würde, meine Koffer zu tragen. Aber niemand war zu sehen. Also blieb mir keine Wahl, sie die drei Steintreppen nach oben zu schleppen, bis ich vor einer Tür stand, die aussah, als führte sie zu einer Folterkammer in irgendeinem uralten Schloss. Auf ihr waren die Zahlen Neun und Zehn angebracht.
    Die Tür hatte ein modernes Schloss, in das tatsächlich einer der Schlüssel passte, die man mir gegeben hatte. Dahinter lagen zwei weitere Türen, die immerhin so aussahen, als wären sie nur fünfzig und nicht fünfhundert Jahre alt. Meine war auf der linken Seite und trug nicht nur eine Neun aus Messing, sondern war, noch viel wichtiger, mit einem Namensschild versehen, auf dem
N . MILLER
stand. Sowenig das auch besagte, immerhin wurde mir dadurch klar, dass ich jetzt endlich eine Oxfordstudentin war.
    Nachdem ich die Tür so schnell wie möglich aufgeschlossenhatte, fand ich mich in einem kleinen, rechteckigen Raum mit hoher Decke und einem Blick auf ganz Oxford wieder. Niedrige Schieferdächer, Turmspitzen, Kuppeln und Türme, hohe Giebel und langgezogene Speicherböden, die mit dunklen Schindeln bedeckt waren, lohfarbene Mauern und Beschläge aus Blei oder Kupfer, Fenster und Oberlichter, die in der Herbstsonne glitzerten. Hier und da stach ein Baum mit gelben und rotbraun gefärbten Blättern aus dem Meer der Gebäude hervor, die perfekt zu den gedeckten Farben der Stadt passten.
    Trotz meiner unmittelbaren, recht spartanischen Umgebung sog ich den Anblick förmlich in mich auf. Er war in gewisser Weise ebenso großartig wie der Ausblick auf das Moor, den man von dem Hügel über meinem Elternhaus hatte und den ich mein Leben lang nicht vergessen würde. Der Pförtner hatte recht gehabt, dies war tatsächlich ein Glücksfall. Denn, selbst wenn alles andere schieflaufen sollte, die Erinnerung an die Schönheit dieses Ortes würde bleiben.
    Nachdem es mir endlich gelungen war, mich vom Fenster loszureißen, schaute ich mir das Zimmer genauer an. Es war schlicht mit einem Bett, einer Kommode und einem Schreibtisch eingerichtet, auf dem ein neuer, sehr teuer aussehender Computer stand. Ein Teil des Raumes war abgeteilt worden, um ein winziges Badezimmer zu schaffen. Ohne diesen zusätzlichen Luxus hätte das Ganze wie eine Mönchszelle gewirkt – was nicht ganz unpassend wäre, dachte man an die Ursprünge der Universität. Es gab auch einen kleinen, leeren Kühlschrank und einen Wasserkocher. Da aber nirgendwo Tee oder Kaffee zu entdecken war, nahm ich mir vor, sofort nach dem Auspacken ein wenig einkaufen zu gehen.
    Als ich etwa die Hälfte meiner Sachen verstaut hatte, hörte ich auf einmal Musik. Sie war nur sehr schwach auszumachen, kam aber eindeutig aus dem Zimmer nebenan. Es war klassische Musik oder zumindest keine Popmusik und mit nichts zu vergleichen, was ich in meinem Leben bisher an Musik gehört hatte. Die Klänge waren melodisch, aber merkwürdig unharmonisch, aufregend und zugleich verstörend. Ich beschloss, meinen neuen Nachbarn sofort zu besuchen, sobald ich fertig ausgepackt hatte.
    Auch wenn man mich kaum als schüchtern bezeichnen konnte, so zögerte ich doch, bevor ich anklopfte. Das Namensschild war ebenso nichtssagend wie mein eigenes.
V.   AUBREY
stand darauf, und das verriet nicht mal, ob der Bewohner männlich oder weiblich war – auch wenn der Name mich sofort an die genusssüchtigen jungen Männer denken ließ, die Evelyn Waugh so gern in ihren Romanen beschrieb. Und da auch die Musik etwas Derartiges, oder vielleicht sogar etwas noch Exotischeres nahelegte, war ich mir ganz und gar nicht sicher, ob ich mich in einer alten Jeans und einem schlabberigen Pullover vorstellen wollte.
    Während ich einen Schritt zurücktrat, blieben meine Blicke an dem einladend großen Schlüsselloch hängen. Ein kurzer Blick konnte nicht schaden und würde mir eine ungefähre Vorstellung geben, womit ich zu rechnen hätte. Wenn sie oder er allerdings die Tür öffnen würde, während ich davorkniete, würde ich wohl einiges erklären müssen. Ich tat es trotzdem, kniete mich blitzschnell hin und spähte durch die Öffnung, durch die ich fast das gesamte Zimmer inklusive Schreibtisch und Bett sehen konnte. Es
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