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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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Zeitgrenze, von da an galt eure Zeitrechnung nicht mehr. Ich weiß nicht, ob ihr unser Tun noch verfolgt und ob diese Dinge euch noch beschäftigen. Manchmal, wenn der Wind hier plötzlich alle Bäume gleichzeitig sich beugen läßt wie betrunkene Knechte oder wenn das Meer die Felsen schreiend umtost und der Himmel mit einer weißen elektrischen Schrift beschrieben wird, denke ich, daß ihr irgendwo in der Nähe seid, doch wirklich gesehen hat euch keiner mehr.

Lastwagen
    E in Foto in The Times . Ein Lastwagen. Er ist an der Straße unter ein paar Bäumen abgestellt. Man würde vorbeigehen und denken, ach schau mal, ein Lastwagen, und vielleicht nicht einmal das. Groß, massig, es sind starke Männer, die solche Fahrzeuge lenken. Der Fahrer ist um drei Uhr nachts zu Hause aufgebrochen, Lastwagenfahrer haben lange Tage. Seine neunjährige Stieftochter fuhr mit, es gab, sagt ihre Mutter später, keinerlei Grund, weshalb sie ihrem Mann das Kind nicht mitgeben sollte. Weil der Lastwagen auffallend lange an dieser Stelle stehenblieb, hat jemand nachgesehen. Das Mädchen lag tot in der Fahrerkabine, ermordet. Von dem Mann keine Spur, die Umgebung wurde durchkämmt. Man fand ihn in einem nahe gelegenen Wald, aufgehängt an einem Baum. Bei dem Mädchen wurden keine Anzeichen sexueller Gewalt entdeckt. Tote schweigen und hinterlassen ein Rätsel, das aussieht wie ein großer Lastwagen unter ein paar Bäumen. Was war es? Am wahrscheinlichsten ist es, daß das Geschehene mit einer unmöglichen Form von Liebe zu tun hat, die letztlich zu diesem zweifachen Tod führen mußte. Ich betrachte das Foto noch einmal. Von dem Lastwagen, der aussieht wie ein Lastwagen, geht jetzt eine so intensive Ausstrahlung aus, daß es kaum zu ertragen ist.

Kenkō
    W ie beschreibt man eine nicht besonders gute japanische Zeichnung? Vielleicht indem man zu verdeutlichen versucht, wie schräg sie ist. Ein einfaches Bambushaus gleitet von links oben nach rechts unten heran. Die Zeichnung ist schwarzweiß, mit dünnen Federstrichen ausgeführt. Das Strohdach wenige simple dünne Linien, der See ein paar Schlängellinien im Wasser, in den faulen Bergen einige Kratzer, Vegetation. Links neben dem kleinen Haus eine Kiefer von bizarrem Wuchs, rechts ein blühender Kirschbaum, unterhalb noch ein Fluß, durch ein paar kurze Striche der Feder hört man das Wasser rauschen. Keine Sonne, kein Mond, den leeren Himmel benötigte der Zeichner für ein Gedicht, die gezeichneten Wörter können fliegen, sie tanzen aufrecht vor dem Weiß. Es gibt nichts Schöneres, als ganz allein unter einer Lampe zu sitzen, ein Buch ausgerollt auf dem Tisch, und Freundschaft mit Menschen zu schließen, die man nie gekannt hat, Menschen aus einer fernen Zeit. Das sagen diese Sätze, diese anmutigen Girlanden am leeren Himmel. Ein Felsen, ein Strauch, ein Faß, ein Bambuszaun, ein Alkoven, ein Schiebefenster aus Reispapier, das ist das Universum des lesenden Philosophen. War es Kenkō, von Sukenobu gezeichnet? Kenkō schrieb sein Tsurezuregusa im vierzehnten Jahrhundert. Betrachtungen aus der Stille . Die Zeichnung entstand vier Jahrhunderte später. Der große, kahle Kopf des Mönchs ruht in dessen linker Hand, das Buch liegt offen vor ihm, er hat Schreibutensilien neben sich, wird aber erst ein wenig später schreiben, jetzt liest er oder denkt über das Gelesene nach. Er sitzt ganz still. Vielleicht hört er das Wasser, vielleicht den Wind in der Kiefer. Wenn er gleich etwas niederschreibt, kommt es in das Buch, das sieben Jahrhunderte später hier auf meinem Tisch liegt. Essays in Idleness, The Tsurezuregusa von Kenkō.

Telefon
    E in niederländischer Mann auf einer spanischen Insel und eine amerikanische Frau in Dublin telefonieren miteinander. Es gibt rund sieben Milliarden Menschen auf der Erde, daß diese beiden miteinander reden, hat also den Anschein äußerster Zufälligkeit. Doch alles, was wirklich ist, ist vernünftig, hat der Philosoph gesagt, und so ist es. Beide haben das Schreiben zu ihrem Beruf gemacht, sie sind sich bei einem Literaturfestival begegnet. Seitdem ziehen sie wieder in der Weltgeschichte herum und telefonieren oder schreiben einander von Zeit zu Zeit.
    Das gestrige Gespräch – über die Pyrenäen, über die Irische See hinweg – drehte sich um das, was sie im Augenblick lesen. Sie eine Biographie von Nurejew, er Band III der Mémoires d'Outre-Tombe von Chateaubriand. Hätte es auch umgekehrt sein können? Das ist nicht wahrscheinlich. Er
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