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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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grau und in Bewegung. Letzteres steht nicht da, das sage ich. Der Berg auf der Insel, auf der ich lebe, ist nicht so hoch wie der Olymp, doch einmal im Jahr steige ich hinauf und blicke aufs Meer. Groß, grau und in Bewegung. Weil du dich stets unterhalb der Wellen aufhältst, kennst du das Element folglich kaum, über das du herrschst. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ein erschöpfter Gott unter Wasser, so sieht Kafka dich. Unter einer durchsichtigen, sich bewegenden Decke. Rastlos. Jemand, der ständig am Rechnen ist, dem die Verwaltung aller Gewässer obliegt. Du mußt dich auch weiter darum kümmern, weil sie niemanden sonst dafür haben. Wer »sie« sind, sagt Kafka nicht, typisch für ihn. Die Vorstellung ist traurig. Ein alter Mann an einem Tisch, in großer Wassertiefe, der immer nur arbeitet. Aus Pflichtgefühl. Von wegen Dreizack, diese Geschichte ärgert dich im Grunde. Über Wassernymphen, Meerjungfrauen kein Wort. Eine richtige Seereise hast du im übrigen bisher auch nie unternommen. Du wartest, bis dieWelt untergeht, sollst du gesagt haben. Kurz vor dem Ende, bevor du die Bücher abschließt, wirst du vielleicht noch eine kleine Rundfahrt machen, schreibt Kafka. Eine Rundfahrt, ich weiß nicht, was ich tun muß, um diesen Gedanken wieder loszuwerden.

Fluß
    L eticia. Eine schlammige Böschung fällt ab zum Fluß. Menschen, Schweine, Hunde, alles wuselt durcheinander. Unten am Ufer die schmalen Boote mit Ruderern, die einen hinüberbringen zur kleinen Insel Fantasia. Hinter mir der Markt, die Früchte, die Fische. Jemand hilft mir den rutschigen Hang hinunter zum Steg, an dem Motorboote liegen. Die anderen sind bereits da. Drei Kolumbianer aus Cali, zwei Niederländer. Zwei Männer, die uns fahren werden, hundert Kilometer stromaufwärts. Einer hockt vorn am Bug, ich sitze neben dem anderen, der steuert. Sobald wir den Hafen hinter uns gelassen haben, scheint es, als öffne sich der Fluß, ein Panorama aus metallisch glänzendem Wasser zwischen flachen Ufern, die immer weiter auseinanderrücken.
    Das kleine Boot durchschneidet das Wasser, das gellende Geräusch des Motors paßt nicht zu der unermeßlichen Stille, die mitten auf dem breiten Fluß herrschen muß. Wir machen halt beim Naturpark Amacayacu, ein eigens angelegter Pfad durch den Regenwald, Bretterstege, wo es zu sumpfig ist, orgiastische Glut von tausenderlei Grüntönen, Blätter aus falschen Träumen, Messer, gezackt und geschliffen, ein Teich mit modrigen Wasserpflanzen unter einem immer dunkler werdenden Himmel, in der Ferne das Grollen eines großen Gewitters. Ein Affe mit geschminktem Gesicht setzt sich neben mich und sieht mich an, als wolle er ein Gespräch über Gottesbeweise beginnen, doch dann kommt der Regen, der nicht fällt, sondern steht, eine graue, kaum durchsichtige Wasserwand, sobald er aufgehört hat, beginnt die Erde zu dampfen, als würde der Schlamm gekocht, das Licht wird jetzt aus Zink und Eisen gemacht, als wirweiterfahren, schmerzt es in den Augen. Wir werden rosafarbene Delphine sehen, die neben uns her tanzen, und Wolken, die in einem fort ihre Gestalt ändern, Tausende von Kilometern lang ist der Fluß, ich würde am liebsten weiterfahren bis nach Iquitos und noch weiter bis zu den Anden, das Motorgeräusch ist betäubend, wir begegnen so gut wie niemandem, nur hin und wieder einem dieser flachen Boote mit den schmalen Gestalten von Indios, stundenlang dieselben Ufer, Grün, Grün, mit den Rätseln des Lebens, das sich darin abspielt in einer Welt ohne Straßen und Autos, bis wir nach Stunden umkehren und mit der Strömung zur Insel Santa Rosa in Peru zurückfahren. Der Boden ist schlammig, Bäume mit ineinander verwachsenen Luftwurzeln, ein Stück weiter ein kahler Baum voller Geier, Holzhäuser auf Pfählen, eine Gruppe Frauen in einem Halbkreis. Es sind ungefähr zehn, und jede Frau hält ein Tier in den Armen. Ein Faultier, einen Papagei, einen Alligator, ein junges Krokodil, eine Wasserschildkröte, einen Leguan, einen Riesenfrosch. Das Ganze ist eindeutig arrangiert, die Frauen verrichten hier ihre Arbeit, später wird der Bootsführer uns um eine Spende bitten. Seitlich von den Frauen sitzt der einzige Mann. Er hält an einem Strick eine Art kleinwüchsigen Jaguar, der zu fauchen beginnt, sobald ich näher komme. Unsere kleine Gruppe steht vor den Frauen und sieht sich die Tiere an, eine absurde Szene, die Königin auf Arbeitsbesuch. Die Frauen sind von unterschiedlichem Alter, sie tragen
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