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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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T-Shirts und kurze Hosen. Was sie denken, läßt sich von ihren Gesichtern nicht ablesen. Von den unsrigen auch nicht, denke ich, ein Krokodil streichelt man nicht, das Faultier scheint tief zu schlafen, die Schildkröte ist zweihundert Jahre alt und weiß ohnehin alles. Ich entferne mich von der Gruppe über ein sandiges Feld, an dem ein Holzgebäude in Rosa und Hellgrün steht, Asamblea Tradicional de Dios, Iglesia Evangélica. Die Götter sind nie fern. Ich steige die wacklige Treppe hoch und betrete einen großen, leeren Raum. Vorne eine Art Altar mit einem Bibelpult, dahinter fünf grellgrüne Plastikstühle, davor sechs schmale Holzbänke ohne Lehnen. Licht fällt durch Spalten und Ritzen in den Holzwänden herein. Es ist friedlich und still. Wo viel gebetet wird, waltet das Göttliche, hat der Philosoph gesagt, der selbst nicht an Gott glaubte. Ich stehe dort kurze Zeit in dieser Stille und höre dann, wie der Motor des Bootes anspringt. Als wir wegfahren, sehe ich die Gruppe noch, die rasch kleiner wird und schließlich im fernen Grün des Ufers verschwindet, als würde eine Zeichnung gelöscht, ein Dorf auf einer Insel im Fluß an der Grenze zwischen Peru, Kolumbien und Brasilien, unendlich weit entfernt von der Hauptstadt Lima, in der keiner weiß, wie es heißt.

Challenger
    E s ist kein Tier, wenngleich es den Anschein hat, da sei ein Kopf, und darin oben rechts ein umflortes Auge, zwei alberne, schlaffe Hörner aus bizarrem Staub, ein paar lange weiße, spitze Schnurrhaare, ein dünner, wackliger Hals, darüber etwas dunkleres Haar. Ein Herausforderer, aber wen oder was hat er herausgefordert? Das schwarze Tuch des Universums, dahinter?
    Doch es ist kein Tier, es ist eine Wolke, die aus pulverisiertem Fleisch und Metall besteht, fein zerriebene Existenzen, lebende und tote Materie, die die Form einer verschwommenen weißen Wolke angenommen hat, ein ausfransendes Grab aus immer feiner werdendem Staub, endlose Auflösung der Körper von Männern und Frauen, die einmal Namen hatten.

Poseidon IV
    I ch weiß nicht, ob du je liest, was über dich geschrieben wird. Homer, Kafka, Ovid? Wahrscheinlich nicht. Aber durch sie weiß ich mehr über dich, als du denkst, und alles wirft Fragen auf. Kafka nennt dich Poseidon, Ovid Neptun. Ehrlich gesagt mag ich deinen lateinischen Namen nicht. Damit verhält es sich ähnlich wie mit dem Pseudonym eines Schriftstellers, man muß einen guten Grund dafür haben, oder man muß zu seinem eigenen Pseudonym werden, wie Stendhal, oder sich auf verschiedene Namen verteilen, wie Pessoa, wobei jeder Name den anderen ausschaltet, vielleicht sogar umbringt. Neptun ist es nie gelungen, Poseidon unterzukriegen, jedenfalls nicht aus meiner Sicht. Auf dem Markt in Lindau steht für mich Poseidon, nicht Neptun. Neptun ist jemand mit dem gleichen Dreizack, aber doch ein Betrüger. Jemand, der sich für dich ausgibt, der alles, was an dir griechisch ist, mit einer Schicht Rom bedeckt hat. Dante las kein Griechisch, er nennt dich Neptun, aber ich weiß, daß du gemeint bist. Paradiso XXXIII , das letzte Buch der Commedia , in dem der Dichter im ewigen Licht seiner unbeschreiblichen Vision steht und weiß, daß er in die Tiefe des göttlichen Mysteriums, die Einheit alles Seienden, geblickt hat und es dennoch beschreiben will. Er erkennt, daß er die Erinnerung an das Gesehene nie wird festhalten können, da er nur ein Mensch ist, daß diese Erinnerung ihm genauso entgleiten wird, wie du im Nebel von fünfundzwanzig Jahrhunderten den so wundersamen Augenblick vergessen hast, als du eines Tages den Schatten der Argo vorbeigleiten sahst, das allererste Schiff, das je die Meere befahren hat. Erstaunt warst du über diesen Anblick, schreibt Dante, und ich versuche mir den Moment vorzustellen, ein Gott, der auf all seinen Meeren noch nie ein Schiff gesehen hat, ein rätselhafter Schatten, der vorbeizieht, das unbekannte Segel gebauscht, ein langgestreckter Gegenstand, besetzt mit Ruderern, der plötzliche Klang menschlicher Stimmen, ein König als Kapitän, sterbliche Jäger auf der Suche nach dem Goldenen Vlies.

Asclepias
    A m 14. November 1827 schreibt die Herzogin von Duras an Chateaubriand: »Mein früheres Leben ist so weit von meinem jetzigen entfernt, daß ich das Gefühl habe, Memoiren zu lesen oder mir ein Schauspiel anzusehen.« Zwei Monate später stirbt sie in Nizza. Sie las, ohne zu lesen, die Memoiren ihres eigenen Lebens, die Chateaubriand in seinen Memoiren niedergeschrieben hat.
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