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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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meines Lebens.

Poseidon II
    D u bist ein Gott, und ich bin ein Mensch. Dies ist, wie man es auch betrachten mag, der Status quo. Vielleicht darf ich trotzdem fragen, was ich schon immer habe fragen wollen. Was ist für euch ein Mensch? Verachtet ihr uns, weil wir sterblich sind? Oder ist es genau umgekehrt? Seid ihr neidisch auf uns, weil wir sterben dürfen? Denn die Unsterblichkeit ist euer Schicksal, auch wenn wir nicht wissen, wo ihr jetzt seid.
    Niemand spricht mehr von euch, das mag bitter sein. Es scheint, als hättet ihr euch spurlos aufgelöst.
    Und dennoch – wenn es stimmt, daß ihr unsterblich seid, und davon gehe ich aus, dann müßt ihr immer bleiben. Das Ende der Welt, das du ankündigtest, ist noch nicht gekommen. Haltet ihr euch in der Nähe eurer leeren Tempel auf? Wart ihr süchtig nach den Opfern, die wir euch brachten? Habt ihr Sehnsucht nach uns? Eine Zeitlang sind wir euer Ebenbild, bis wir zusammenbrechen, Ruinen, die aber noch denken und sprechen. Dann haben wir keine Ähnlichkeit mehr mit euch.
    Doch was ist geheimnisvoller, jemand, der sterben kann, oder jemand, der nie sterben darf? Und damit bin ich wieder bei meiner ersten Frage: Was denkt ihr eigentlich über uns?
    Heute am Meer gewesen, bei stürmischem Wind. Lange auf einem Felsen gesessen, auf die Wellen geschaut, grau und wild. Keine Antwort, natürlich nicht. Früher habt ihr euch zuweilen als Menschen verkleidet, um uns etwas zu sagen. Manchmal denke ich, daß es noch immer so ist, daß ich einem von euch begegnet bin. Aber sicher bin ich mir nie.

Begegnung
    Z wei Jungen kommen mir auf dem schmalen Pfad entgegen, der vom Meer zum Dorf führt. Der eine ist ein Halbwüchsiger, lang, ungeformt, alles an seinem Körper schlenkert. Dadurch wirken die Schritte des viel kleineren Jungen hinter ihm wesentlich bedächtiger. Er sieht dunkel, südländisch, römisch aus. Sein Alter ist schwer zu schätzen, vielleicht neun oder zehn, was mir jedoch auffällt, ist der gänzlich nach innen gerichtete Blick. Natürlich kann ich nicht wissen, was er dort sieht, aber das Geheimnisvolle dieser äußersten Konzentration läßt mich durch die Zeit stürzen. Wie lange ist es her, daß ich in diesem Alter war? Warum habe ich das Gefühl, etwas wiederzuerkennen? Steckte derjenige, der ich heute bin, fast siebzig Jahre später, bereits in dem Kind, an das ich mich nicht erinnere? Dieses Rätsel begleitet mich den ganzen Tag. Gibt es das, ein anderer als Spiegel, in dem das eigene Alter verfliegt? Warum denke ich, daß ich mir selbst begegnet bin? Und falls das nicht zutrifft, wem bin ich dann begegnet, den ich nie kennen werde?

Invalides
    D iese Toten sind für immer Invaliden. Sie werden sich nie wieder bewegen. Ihre zehn Särge sind in zeremonieller Symmetrie gegenüber dem klassischen Gebäude in der Ferne angeordnet. Es ist viel Platz zwischen dem Gebäude und den Särgen. Auf dem Foto wirkt er weiß, als hätte es geschneit. In der Mitte steht eine einzelne, zentrale Gestalt, der Präsident von Frankreich. Er hat diese Toten nach Hause geholt. Unsichtbar auf dem Foto ist die Frage, die hier nicht gestellt wird: Was für ein Krieg ist das? Weil wegen der Entfernung kein Gesichtsausdruck lesbar ist, dominiert die Dramaturgie der Zahl, der eine gegenüber den vielen. Napoleon baute diesen Dom für seine Soldaten, der Gedanke an ihn ist in diesem Augenblick nicht fern. Das Gefühl der Trauer in einer Geometrie theatralischer Reinheit einzufangen hat sein eigenes Pathos. Schräg hinter dem Präsidenten steht jemand, der salutiert, er ist zu weit weg, als daß sein Rang zu erkennen wäre. Die Mannschaften vor dem Gebäude, an der Seite und bei den Särgen bilden ein Fünfeck, eine klassizistische Zeichnung. Es muß Geräusche gegeben haben, doch auf dem Foto herrscht nur Stille.

Poseidon III
    H eute las ich eine Erzählung von Kafka, die ich noch nicht kannte. Sie trägt deinen Namen, Poseidon.
    Kafka ist ein Kontinent für sich, man gerät bei ihm ständig an Orte, die einem bislang fremd waren. Wenn wir davon ausgehen, daß manche Literatur zeitlos ist, dann lebst du also noch, wiewohl nicht glücklich. Noch habe ich dich nicht in einer Götterprozession schreiten sehen, da muß ich das Bild bereits korrigieren, denn für derlei Dinge hast du gar keine Zeit. Du bist zu beschäftigt. Kafka zufolge hast du das Meer eigentlich auch nie gesehen, höchstens ein einziges Mal, als du mit Mühe den Olymp bestiegen hattest. Da lag es tief unter dir, groß,
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