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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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Ich lese also eine Verdoppelung von Erinnerungen. Das braucht einen nicht zu verwundern. Zwei adlige Personen, die beide gut schreiben konnten und in einer bewegten Zeit lebten. Terror, Emigration, Restauration. Große Themen, und doch beschäftigt mich etwas anderes. Im selben Brief schreibt die Herzogin, daß sie ihm eine Asclepias carnata geschickt habe, eine lorbeerähnliche Kletterpflanze, die nicht kälteempfindlich sei und eine Blüte habe, rot wie die einer Kamelie. Setze sie unter die Fenster der Bibliothek des Benediktiners, schreibt sie. Benediktiner, das war ihr Name für ihn. Der Schriftsteller als Mönch. Die Zauberkunst des Lesens. Eine tote Herzogin, ein toter Schriftsteller, der Weg, den die Pflanze von Nizza nach Lausanne zurücklegt, ihr Eintreffen bei der Bibliothek. Was ich sehe, ist das Rot dieser Blüte, und ich sehe es jetzt.

Zeit
    M eine Armbanduhr ist ein flaches Rechteck mit einem doppelten, aber sehr dünnen goldenen Rand. Falls es stimmt, daß sie einen Aspekt der Zeit verkörpert, dann liegt die Zeit flach auf meinem Handgelenk. Die Frage ist, ob sie auch außerhalb dieses goldenen Randes existiert? Das Zifferblatt ist weiß, dank meiner Sommerbräune hebt sich dieses starre Weiß hart von meiner Haut ab. Die Ziffern sind römisch, die IV und die VIII sind schräg nach unten gerichtet, die VI steht auf dem Kopf, verkehrt herum, die Zeit liegt da in ihrer eigenen Fallgrube. Über dieser Ziffer steht etwas geschrieben, so klein, daß ich es ohne Lupe nicht lesen kann. Erst als ich die Buchstaben vergrößere, sehe ich zum erstenmal in dreißig Jahren, daß dort Quarz steht. Niemand weiß, woher das Wort stammt. Feuerstein, Granit, Amethyst. So bin ich mit der mineralischen Welt verbunden. Die IX und die III liegen einander gegenüber in vorbildlichem Gleichgewicht auf einem imaginären Horizont. Das ist es also nicht, weswegen ich bestürzt bin. Meine Uhr muß hingefallen sein. Durch das Glas über dem weißen Blatt mit den symmetrisch angeordneten Zahlen verläuft eine dünne, bizarre Bruchlinie, die die Ordnung der Zeit stört. Wenn das an meinem Handgelenk passieren kann, warum dann nicht überall?

Poseidon V
    J ede reine Form, das heißt Form, die nicht mit Materie vermischt ist, ist eine Intelligenz, ein Satz eines arabischen Philosophen aus dem Mittelalter. Kannst du mit solchen Abstraktionen etwas anfangen? Haben deine Philosophen, und damit meine ich die Denker, die lebten, als ihre Zeitgenossen noch zu euch beteten, sich je wirklich mit euch beschäftigt? Oder ging es ihnen im Grunde doch auch schon um jenen einen, anderen Gott, der nicht mit einem Naturphänomen oder einem menschlichen Tun verbunden war, nicht verantwortlich für Feuer oder Krieg oder Liebe? Was hieltet ihr von diesem Einen, den wir uns gerade nicht als Menschen vorstellen konnten, obwohl wir es taten? Wir hatten einen älteren Mann aus ihm gemacht, um uns an irgend etwas festhalten zu können, vielleicht ja aus Heimweh nach euch, aber je mehr Zeit verstrich, desto ätherischer, unsichtbarer und, wenn man das so sagen darf, unmenschlicher wurde er, einerseits eine Idee und andererseits jemand, der sich, anders als ihr, nie wirklich um uns kümmerte, auch wenn Priester das Gegenteil behaupteten. Zum Schluß ist Er, oder zumindest eine Seiner drei Erscheinungsformen, gestorben, was mich jedoch beschäftigt, ist, was dachtet ihr über Ihn? Fandet ihr diesen künftigen Konkurrenten genauso rätselhaft wie die meisten Sterblichen? Jemand, der nie antwortete, wenn man Ihn etwas fragte, der aber ein Buch geschrieben hatte, in dem stand, Er habe alles erschaffen. Mit Einzelheiten wie simplen Naturerscheinungen hielt Er sich nicht auf, Er kümmerte sich nur um die ganz großen Dinge wie die Sintflut. Man würde fast sagen, für Blitz und Donner hatte Er schließlich euch. Doch das genau war es ja, ihr kamt in SeinemBuch nicht vor, es sei denn als Abgötter. Abmenschen gibt es nicht, Abgötter wohl, und in Seinem Buch wird Er rasend eifersüchtig auf sie. Warum eigentlich? Ist das einer der Gründe für euren Untergang?
    Es hätte Ihm doch klar sein müssen, daß die meisten Menschen mit Abstraktionen nichts anzufangen wissen? Er hätte euch besser einsetzen können. Später, als Er bereits unendlich lange gelebt hatte, bekam Er einen Sohn, der auch Mensch war, ein bißchen wie ihr, aber trotzdem anders, denn im Gegensatz zu euch konnte er sterben, freilich nur als Mensch. Dieser Augenblick markierte dann eine
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