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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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wäre es ein Kaninchen, seine Augen sind weit aufgerissen, die Haare wehen wie im Sturm, im Geiste hört man förmlich das Geräusch seiner Kiefer, als er euch zermalmt, ein Wunder, daß er dich heil ausgespien hat, nachdem ihm dein Bruder Gift in den Honig getan hatte. Möchtest du deshalb immer unter Wasser bleiben? Um von dieser gräßlichen Familie erlöst zu sein? Wir glauben zu wissen, wie die Welt entstandenist, ein genauso gewalttätiges Märchen, allerdings ohne Götter und damals auch noch ohne Menschen. Bei euch beginnt alles mit Chaos, bei uns mit einem Moment, unvorstellbar gesättigt mit einer unmöglichen Spannung, und erst danach folgt das Chaos, das immer noch andauert und das wir für Ordnung halten, eine sich beständig erweiternde mechanische Formel. In jenem Moment also ist die Zeit entstanden, doch weil manche von uns an einen Gott glauben, den es immer schon gab und auch immer geben wird, ist das natürlich nicht möglich, außer man will glauben, daß Zeit erst zu einem Aspekt der Ewigkeit wurde, als die Welt entstand.
    Der Gott, von dem ich spreche, ist nach Ansicht jener, die nach wie vor an ihn glauben, allzeit und überall. Allzeit ist alle Zeit, und alle Zeit ist Ewigkeit, es sei denn, die Ewigkeit bräuchte die Zeit vor oder nach der Welt nicht. Was bei uns allzeit ist, heißt auf schwedisch die ganze Zeit. Das ist folglich die Zeit des Weltalls, in dem wir leben. Welt-all, All-Zeit. Wie aber ist es bei euch? Ihr seid zwar Götter, aber doch nur in einer Richtung ewig, sozusagen nach vorn. Schließlich wart ihr nicht immer da, der Gott, von dem ich spreche, dagegen schon. Nie geboren, das ist der Unterschied. Du wurdest es, und sogar deine Mutter wurde geboren, und vor ihr deren Mutter, als Kind des Tages und der Luft, die ihrerseits ein Kind der finsteren Nacht und der undurchdringlichen Unterwelt war. Alles Familie, auch da verflüchtigt sich die Geschichte in einer Wolke von Ewigkeit, die unbenennbar ist, der Nebel des Chaos als Ahnherr, doch dem Chaos kann man kein Standbild errichten. Dir wohl, ich sehe dich hier jeden Samstag, wenn ich auf den Markt gehe. Die Zyklopen haben diesen Dreizack für dich geschmiedet, an dem wir dich immer erkennen. Es ist eine Waffe, du kannst damit töten. Ob du mich hörst, weiß ich nicht, aber vielleicht ist Erkennen ja auch eine Form der Anbetung. Jedenfalls wirst du dich damit begnügen müssen, obgleich bekannt ist, wie schnell du ergrimmst.

Mauer
    E s gibt Formen von Schrift, die nicht als solche gedacht sind. Man findet diese unbeabsichtigten Briefe an Stränden, im Asphalt einer Stadt, im abgesägten Stück eines Baumstamms, im Gestein. Mitteilungen in Geheimschrift, Botschaften, Kodes. Schriftzeichen, Graffiti, von niemandem geschrieben. Auf der Insel, auf der ich lebe, läuft ein Sandweg durch eine ausgedörrte Landschaft. Disteln und Galläpfel, pulvriger brauner Staub, der aufweht, wenn man darübergeht. Die Landschaft liegt im Norden, der Wind vom Meer hat hier freies Spiel, man sieht es an den Bäumen und Sträuchern, sie haben sich der Gewalt gebeugt und sind zu grotesken Skulpturen geworden, den Rücken dem Geräusch des Meeres zugekehrt. Am Ende des Weges ein Kieselstrand, ausgelaugter, braun gewordener Tang, manchmal weiß verfärbt vom Meersalz. Unterwegs zwei oder drei Häuser, unbewohnt. Eines liegt etwas höher, trotz der Hitze steige ich zu ihm hinauf. Der leere Kreis einer Tenne mit gesprungenen, ausgeblichenen roten Platten und vertrocknetem Unkraut. Ein Kaktus wie ein zusammengebrochener Brancusi. Das Haus selbst niedrig, die Dachziegel überzogen mit dem ockerfarbenen Schimmel von Flechten, die Fensterscheiben geborsten. In dem, was einst ein Stall war, ein alter Karren, daneben die hölzerne Deichsel. Eine abgebrochene Dachrinne, das Blei schieferfarben. Glasscherben, die im grellen Sonnenlicht aufleuchten. Auf einer Mauer vier Flaschen, schmutzig und mit Sand gefüllt. Die Stille ist tonnenschwer. Ich stehe vor der Schrift der Mauer, Kratzer im abgeblätterten Putz, flockiges Weiß, das an verdorbenen Schnee erinnert. Bahnen, Kreise, schmale Furchen, was für Buchstaben sind das? Wenn ich langegenug davor stehenbleibe, lese ich ein Gedicht von Verfall und Abbruch, von menschlicher Abwesenheit. Ein Gedicht in Form einer Mauer. Alle haben sie daran mitgeschrieben, der Nordwind, die Augusthitze, der Februarregen. Wenn ich weggehe, liest hier niemand ein Wort.

Fleck
    E in Bild hat sich festgesetzt, obwohl man es nicht
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