Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
Vom Netzwerk:
gesehen hat. Bei Filmen ist das merkwürdig, aber genau so ist es. Es ist nur gesagt worden, nicht gezeigt. Etwas war zu sehen, das wir nicht sahen, ein weißer Fleck, dessentwegen die Person, die es sagte, in dem Augenblick nicht gut sehen konnte. Sie hatte ihre Brille abgesetzt, weil sie weinen und sich danach die Augen reiben mußte. Der Mann, der gerade voll flammendem und zugleich eiskaltem Haß zu ihr gesprochen hat, steht einige Meter von ihr entfernt. Für uns ist sein Gesicht zu erkennen. Es ist weiß und von maßloser Verzweiflung und Selbstmitleid erfüllt. Weil die Frau ihre Brille nicht aufhat, sieht sie nicht sein Gesicht, sondern statt dessen diesen weißen Fleck. Das sagt sie jetzt. Der Film hat sie häßlich gemacht, eine Lehrerin vom Land, doch in diesem Moment ist sie schön. Große Kunst, Liebe allein dadurch zu zeigen, daß man eine Person in einem leeren Klassenraum den Kopf etwas anheben läßt, wodurch sie anderes Licht einfängt. Der Mann hat lange gesprochen, fast monoton, mit diesem unterkühlten Beißton absoluter Verachtung. Eine Litanei gemessenen Hasses. Sie liebt ihn, und er will sie nicht. Sie sind zusammen, aber alles widert ihn an, sie, ihre Nähe, ihre Stimme, ihre Tränen. Was er sagt, ist eine Litanei der Zerstörung, doch selbst sein Haß ist hohl, wie auch sein ganzes Leben, und sie weiß es. Sie sieht einen weißen Fleck, einen schon nahezu erloschenen Mann, der seinen ohnmächtigen Abscheu ballt, während sie vor Liebe immer hübscher wird. Die letzte Szene ist ein Gottesdienst mit drei Abendmahlsgästen: der geile Organist, der auf seine Armbanduhr schaut, der hinkende Küster, der an die Einsamkeit Christi im Garten Gethsemane denkt, und sie mit ihrer Liebe und ihren großen Schuhen und dem unmöglichen Seehundfellmantel. Der Mann, den sie liebt, blickt in die leere Kirche und beginnt den Gottesdienst mit den ewiggleichen Worten. Orgeltöne, der wundersame Zauber des Schwedischen, in dem mitunter meine eigene Sprache wie eine Erinnerung an archaische Zeiten mitschwingt. Eine leere Kirche in einer endlosen Landschaft, 1963, die frühe Dunkelheit des nördlichen Winters, keine Lösung, keine Gnade, das Leben als seine eigene Strafe.

Poseidon VIII
    J e mehr ich weiß, um so weniger weiß ich. Und da fängt die Verwirrung schon an. Was auf griechisch, bei Hesiod, Chaos heißt, das, aus dem angeblich alles entstanden ist, euer Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde , heißt in der letzten englischen Übersetzung der Theogonie , die ich gelesen habe, chasm , Abgrund, Höhle, etwas, das weit offensteht, und das ist etwas ganz anderes als Chaos. Chaos ist ein Durcheinander von allem möglichen, während eine Öffnung im Grunde nichts ist, Leere, ein Loch. In diesem Sinne bist du also ein Urenkel des Nichts. Bei uns erschuf Gott am Anfang etwas aus dem Nichts, denn wer ewig ist, war bereits da und geht folglich dem voraus, was er erschafft. Das ist bei euch demnach anders und im Grunde noch rätselhafter. Wer bei uns nicht an Gott glaubt, spricht vom Urknall, von der großen Explosion, aber der Explosion wessen? Auch da bleibt das Rätsel, was davor war. Das kann ich nicht lösen, du vielleicht auch nicht, und Hesiod erklärt es nicht, warum sollte er schließlich? Er hat schon genug Mühe mit allen Komplikationen eures hundertfach verzweigten Stammbaums, der noch komplizierter wird, weil ihr uns so gleicht. Lüsterne, eifersüchtige, kopulierende, erhabene, sich gegenseitig bekämpfende Menschen, die zufällig unsterblich sind und mit ihren Geschichten die Welt in Atem halten. Unser Gott mußte sich einen Sohn ausdenken, um uns etwas näher zu kommen, doch wie Pascal bereits wußte, ist das Rätsel, was Er oder Sie oder Es wirklich ist oder war, zu groß für unsere beschränkte Vorstellung. Im 12. Jahrhundert dachte der Theologe Alain de Lille, Gott sei eine Kugel, deren Zentrum überall und deren Umfang nirgends sei, eine mysteriöse mathematischeVorstellung von so großem Reiz, daß sie später bis hin zu Rabelais in verschiedenerlei Form wiederholt werden sollte. Gott als Kugel war auch schon bei deinen Landsleuten Xenophanes und Parmenides vorgekommen, aber ob du, mit deinem menschlichen und göttlichen Körper, von derlei Spekulationen Kenntnis hattest, ist uns nie berichtet worden, du hast nie etwas davon gesagt, also bleibt alles im dunkeln, und das ist vielleicht auch besser.
    Wir sind zu unvollkommen geschaffen für diese gewaltige Abstraktion, unsere Fragen zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher