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Nonnen

Nonnen

Titel: Nonnen
Autoren: Michael Siefener
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Es war warm hier.
Der Wind draußen schien sich gelegt zu haben. Ich schaute
Gramm an. Seine Augen spiegelten die Angst wider, die er
augenblicklich empfinden mußte. Und meine eigenen Augen
besaßen sicherlich denselben Ausdruck. Es hatte seinen
Grund.
    Die Wände bestanden aus nichts als aus Bildern. Aber es
waren keine Ölgemälde, Radierungen oder Drucke. Auch
waren sie nicht auf den Putz gemalt. Sie veränderten sich
unablässig. Wo eben noch eine Waldlandschaft zu sehen
gewesen war, mit hohen, sterbenden Buchen und verkrüppelten
Eichen, zeigte sich nun das Bild eines Weihers in Halbmondform
und jetzt eine Wiese, von mageren Fichten umgeben, dann wieder
eine Kirche, ein Dorf in der Verkrampfung der Nacht, endlose
Bücherregale, die wiederum Bilder erschufen, welche sich
über die anderen Bilder legten, es waren schrecklichere
Bilder, nicht mehr von toten oder natürlichen Dingen,
sondern von beseelten und zugleich doch seelenlosen Lebensformen.
O nein, es waren nicht nur Menschen, die uns da von den
Wänden herab anbrüllten. Wir hielten uns die Ohren zu
und versuchten, auch die Augen zu schließen und unseren Weg
über die Treppe mit den Füßen zu ertasten. Aber
wir taumelten. Dann stolperte ich und fiel Gramm in den
Rücken. Zusammen, übereinander polterten wir auf den
nächsten, nicht weit entfernten Absatz. Wir öffneten
die Augen wieder.
    Da waren keine Bilder mehr, nur noch kahle,
schmutzigweiße Wände, die auch hier von Flecken und
Geweben durchzogen waren, wie eine Fortsetzung meiner Zimmerwand.
Schnell standen wir auf und lauschten in das Zwielicht der
Notbeleuchtung. Alles war still. Wir schöpften wieder
Hoffnung. Gebückt, als könne uns das unsichtbar machen,
schlichen wir weiter treppab. Die Bilder blieben verborgen, doch
nun wußten wir, daß sie dicht unter der
Oberfläche der unscheinbaren Wand lauerten.
    Wir verließen das Treppenhaus durch eine weit
offenstehende Tür, hinter der ein sanfter Lichtschimmer
lagerte. Auch hier gab es nichts als einen fensterlosen Gang und
viele offene Türen. Ja, es war plötzlich das Haus der
offenen Türen, und keiner der Bewohner schien dies zu
bemerken, obwohl uns doch manche aus ihren Zimmern heraus
ansahen. Ihre Blicke waren stumpf; sie schauten nach innen, nicht
nach außen.
    Zum Glück befand sich in diesem Gang kein Wächter,
doch es gab auch keinen Ausgang. Uns wurde bewußt,
daß wir außer unserer eigenen Etage nichts von dem
verwirrend großen Gebäude kannten. So entschlossen wir
uns, zur Treppe zurückzugehen und weiter hinunterzusteigen.
Wir erreichten sie unbehelligt. Jetzt zeigte sie uns keine ihrer
Bilder, doch manchmal schien sich die glatte Oberfläche der
Wand zu wellen, als wolle sie etwas gebären. Aber sie gebar
nichts.
    Auch das nächsttiefere Stockwerk schien noch nicht das
Erdgeschoß zu sein; zumindest sah es genauso aus wie das
darüber. Nirgendwo indes gab es ein Fenster in dem Gang,
durch das wir unsere Höhe hätten abschätzen
können. Also schritten wir noch weiter hinab.
    Es war widersinnig; das Haus konnte doch nicht derart hoch
sein. Da kam Gramm eine schlimme Idee. Er gab zu bedenken,
daß wir uns möglicherweise schon tief in der Erde
befänden, also in den – ebenfalls bewohnten –
Kellergeschossen herumirrten. Wir sollten versuchen, wieder nach
oben zu steigen. Wer konnte denn sagen, ob unsere eigenen Zimmer
nicht etwa im Erdgeschoß lagen?
    Doch als wir im Treppenhaus standen, gab es keine nach oben
führende Treppe mehr. Es gab kein Oben mehr. Die Treppe
begann in dem Stockwerk, in welchem wir uns befanden, und
führte von hier aus nach unten. Gramm schüttelte den
Kopf. Das sei unmöglich, sagte er. Ich hatte schon
längst die Orientierung verloren und warf ein, vielleicht
seien wir statt nach unten nach oben gelaufen. Gramm sah mich mit
einem grimmigen Blick an, erwiderte aber nichts. Wir stiegen
hinunter. Weiter hinunter – oder erstmals hinunter?
    Alle Etagen, auf die wir stießen, waren
gleichförmig, ja sie schienen sogar dieselben Bewohner zu
haben. Niemand trat uns in den Weg, niemand hielt uns fest,
niemand kümmerte sich um uns. Und dann, irgendwann auf
unserem unendlichen Weg nach unten, setzten die Bilder in der
Wand des Treppenschachts erneut ein. Zuerst waren es wieder
einmal nichts anderes als harmlose Landschaften, die jedoch
seltsam bizarr wirkten. Gezackte Bäume schliefen unter einem
Nachthimmel mit vielen Monden, spitze
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