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Nonnen

Nonnen

Titel: Nonnen
Autoren: Michael Siefener
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waren. Damals hatte er es als Qual empfunden, jetzt
aber war die Vorstellung an ein Austrocknen seiner Träume
eine Verheißung. Doch wo lag diese Stadt? Er hatte ihren
Namen vergessen, er hatte ihre Lage vergessen.
    Und es gab niemanden, den er hätte fragen können.
Noch vor kurzem, in jenem Haus, in das man ihn gegen seinen
Willen gebracht hatte, hatte er oft über die Stadt sprechen
müssen, und es war ihm jedesmal klar gewesen, wo sie sich
befand. Er sah sie vor seinem geistigen Auge, er sah die
Erlebnisse, die er in jener Stadt gehabt hatte, er sah die
erlöschende Dunkelheit und die Prozession der schweigenden
Menschen und die verwilderte Wiese und die kranken Fichten in
aller Klarheit vor sich, doch seitdem er das Haus verlassen
hatte, war diese Klarheit von ihm abgefallen wie ein alter, sich
auflösender Mantel. Er besaß noch das Wissen um eine
solche Stadt er besaß die Sehnsucht nach ihr, zum ersten
Mal in seinem Leben, doch weiter besaß er nichts mehr
– außer seinen verhaßten Träumen, die ihn
in jeder Nacht die tausend Qualen der Hölle zu kosten
gaben.
    Wo sollte er mit seiner Suche beginnen? Er lief
müßig durch die Straßen der kleinen Stadt und
hörte genau zu, wenn sich Passanten unterhielten. Doch in
ihrem Reden fand er keine Spur. Und schließlich ging er in
die öffentliche Bibliothek und ließ sich geographische
Bücher zeigen. Er arbeitete sie durch, las unsystematisch
einen Band über den Norden des Landes, dann wieder einen
über den Süden, einen über die Mitte, einen
weiteren über den Norden. Manchmal glaubte er auf dunklen
alten Fotos eine Ahnung der Straßen und Gebäude zu
erblicken, die er damals, in seinem anderen Leben, gekannt hatte,
doch die Namen der Städte, die zu jenen Fotos gehörten,
waren ihm vollkommen fremd. Auch verloren sie ihre
Ähnlichkeit, je länger er sie anstarrte.
    Tag für Tag kam er in die Bibliothek. Inzwischen
wußte er, wo die Bücher standen, die ihn
interessierten; niemand mußte ihm mehr helfen. Immer
saß er allein an einem kleinen Tisch in einer dunklen Ecke
des weitläufigen, durch die seltsame Anordnung der Regale
geradezu labyrinthischen Raumes, und immer mußte eine Lampe
über diesem Tisch brennen, damit ein Lesen überhaupt
möglich war. Bisweilen leckten die Schatten bis knapp an die
Lampe heran; sie wanden sich wie Schlangen um den Lichtkegel, und
wenn er nach ihnen schaute, vermeinte er Bilder in ihnen zu
sehen: Bilder einer verlassenen, verwahrlosten Straße,
Bilder von Häusern mit toten Augenhöhlen, Bilder einer
fichtengesäumten Wiese, wo etwas Schreckliches geschehen
war. Es waren Bilder aus seinen unvollkommenen Erinnerungen.
    Er blieb so lange wie möglich in der Bibliothek, und wenn
sie schloß und er sanft, aber bestimmt hinausgebeten wurde,
schlenderte er durch die Gassen und Straßen, um nicht in
die Traumhöhle seines Zimmer zurückkehren zu
müssen. Und auf einer seiner ziellosen Wanderungen kam er an
zwei Passanten vorbei, die nur aus Schatten zu bestehen schienen,
obwohl sie unmittelbar unter einer hellen Laterne standen, die
hoch oben an einer zerbröckelnden Ziegelmauer angebracht
war. Die Schatten unterhielten sich laut und deutlich.
    »Ich komme gerade von dort. Es ist so wie immer. Nichts
hat sich verändert.«
    »Sei froh, daß du es geschafft hast, wieder
herauszukommen.«
    »Ich weiß nicht, vielleicht wäre ich sogar
lieber dortgeblieben.«
    »Jeder wäre lieber dort, wenn er hier ist, aber
umgekehrt verhält es sich genauso. Es ist gut, daß nur
wenige den Weg kennen.«
    Er drückte sich knapp außerhalb des Lichtkegels
herum und tat so, als wolle er sich die Auslage eines
Schaufensters ansehen. Doch in dieser Auslage gab es nichts als
unbekleidete Schaufensterpuppen. Wenn sie doch nur weitergeredet
hätten! Der Weg!
    »Ja, der Weg«, sagte einer der beiden. »Er
ist so weit, daß man kaum glaubt, es könnte sich
lohnen. Doch es lohnt sich in…« Er nannte den Namen
einer Stadt, die allgemein sowohl für ihre
Sehenswürdigkeiten als auch für ihre
Gefährlichkeit bekannt war. Nein, diese beiden waren nichts
als gewöhnliche Touristen. Und dabei hatte es so
verheißungsvoll begonnen.
    Er trat von dem Schaufenster zurück und schaute in den
Lichtkegel der hoch oben hängenden Lampe. Da stand niemand
mehr. Die beiden Passanten waren verschwunden, nicht einmal das
Klappern ihrer Schuhe auf dem Asphalt war mehr zu hören. Da
wußte er, daß er
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