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Nonnen

Nonnen

Titel: Nonnen
Autoren: Michael Siefener
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doch einen Zipfel der Wahrheit
erhascht hatte. Doch diese Stadt, von der die beiden gesprochen
hatten, diese einfach zu definierende und einfach zu findende
Stadt – sie war nicht die Stadt, die er suchte. Vielleicht
aber eignete sie sich als Ausgangspunkt für seine Suche
besser als die kleine Stadt, in der er nun lebte. Also machte er
sich auf die Reise.
    Die Stadt war abscheulich. Es war nicht ihre Schuld, daß
der Himmel mit abendlich dunklem Grau verhangen war und daß
es nieselte wie an einem Novembertag. Es war zu warm für den
späten Winter; als könne die Stadt den Frühling
nicht erwarten. Doch auch im Frühling wäre die Stadt
trotz ihrer Sehenswürdigkeiten, die sich in Museen und an
unzugänglichen Orten verbargen, dunkel, dreckig und
schäbig, auch dann verschwänden ihre verrußten
Fabriken, ihre verwahrlosten Straßen und ihre verlotterten
Bewohner nicht.
    Als er die ersten Schritte in dieser Stadt getan hatte,
wußte er, daß er auf einer Spur war. Zwar war er noch
niemals hier gewesen, doch etwas gab ihm die Ahnung ein,
daß er ganz nahe am Ziel war. Vielleicht war es die neblige
Dunkelheit – es war später Nachmittag, als er mit dem
Zug angekommen war –, die ihm Bilder aus jener anderen
Stadt vorgaukelte. Er lief auf den Straßen umher und suchte
eine Bleibe. Schließlich fand er eine kleine Pension in der
Nähe des Bahnhofs. Die Wirtin zeigte ihm ein Zimmer im
Souterrain, das nur ein winziges vergittertes Fenster
besaß. Er nahm es, es war ihm gleichgültig, er suchte
schließlich nicht den Himmel, sondern die Hölle. Die
Hölle des Vergessens, die ein eigener Himmel war. Schon in
der ersten Nacht durchbohrten ihn seine Alpträume
schrecklicher denn je. Es war, als spürten sie sein
Vorhaben. Er erwachte am nächsten Morgen mit Blut im Mund.
Die Wirtin beschwerte sich bei ihm, er habe in der Nacht
geschrien. Wenn es noch einmal vorkomme, müsse er das Zimmer
verlassen.
    Er rannte durch die Straßen, die auch im dumpfen Licht
des nebligen Tages nicht freundlicher aussahen. Die Leute liefen
nebeneinanderher, niemand sprach mit dem anderen, sie alle waren
in Kokons aus ihrer eigenen Einsamkeit eingesponnen.
    Manchmal war es ein verbogenes, in sich selbst
hineingekrümmtes Hinweisschild, manchmal der Anblick einer
Häuserzeile, manchmal auch nur ein abgestandener Geruch, der
die Erinnerung zurückbrachte. Doch dies war eindeutig nicht
die Stadt, die er so verzweifelt suchte. Vor einer Buchhandlung
sah er einen Mann in einem abgewetzten, zerschlissenen langen
Mantel stehen. Er trug auf seinem grotesk langen und schmalen
Kopf eine speckige Mütze. Als er diesen Mann sah, schlug ein
Blitz der Erinnerung bei ihm ein. Er ging mit unsicheren
Schritten auf den Mann zu. Da kreischte hinter ihm ein Auto. Er
fuhr herum. Jemand hatte bremsen müssen; etwas Schwarzes war
über die Straße gehuscht, vielleicht ein Tier. Er
drehte sich wieder zu dem Schaufenster um.
    Der Mann war verschwunden.
    Er trat an die Auslage heran und sah ein Buch mit einem
Umschlag aus Schwarz und Weiß: ›Die Orte der
Imagination‹. Auf dem Umschlag war eine Wiese abgebildet,
eine Wiese mit Bäumen zwischen hohen, unbewohnten
Häusern. Und Hunderte von Exemplaren dieses Buches lagen in
dem Fenster; kein anderes Werk war zu sehen. Sofort betrat er die
Buchhandlung.
    Eine Verkäuferin schaute ihn hinter einer spitzen,
fledermausartigen Brille mißtrauisch an. »Ich will
eines der Bücher in dem Schaufenster«, sagte er rasch
mit vor Aufregung heiserer Stimme. »Irgendeines?«
fragte sie tadelnd zurück. Ihr Ton war so spitz wie die
Enden ihrer fledermausartigen Brille. »Irgendein Exemplar,
ja. Eines über die Orte der Imagination.« Sie schaute
ihn nur an, sagte aber nichts mehr. Verstand sie ihn denn
nicht?
    Er trat zur Schaufensterauslage und blickte hinein. Er sah
eine große Auswahl bunter, auf dem Kopf liegender
Umschläge, deren Beschriftungen wie Gesichter wirkten: Worte
als Augen, Worte als Münder und Nasen. Und alle grinsten ihn
an. Er hatte sich furchtbar geirrt und lief nach draußen,
ohne etwas weiteres zu sagen.
    Die Stadt war hier, ganz dicht bei ihm. Er wußte es. Und
in der Nacht wüteten wieder die Alpträume. Am
frühen Morgen wurde er von seiner Vermieterin auf die
Straße gesetzt. Nun war er obdachlos. Er setzte seine Suche
fort und hoffte, wenigstens den grotesken Mann irgendwo zu
entdecken, doch dieser blieb genauso verborgen wie die
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