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Nonnen

Nonnen

Titel: Nonnen
Autoren: Michael Siefener
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hervorkroch, war ich erwacht.
    Am nächsten Tag fand unser Treffen statt. Wir kamen vor
Schreins Antiquariat in dem ausgebrannten Kino zusammen. Niemand
öffnete uns. Nach einer Stunde, die wir schweigend auf der
kalten und verwahrlosten Straße nebeneinander verbracht
hatten, gingen wir wieder auseinander.
    Seither hat niemand mehr den Antiquar Schrein gesehen. Und
niemand ist mehr Gill begegnet, weder im Traum noch in der
Wirklichkeit. Aber wo liegt da der Unterschied?

 
Viertes Bild
DAS HAUS DER
STERBENDEN TRÄUME
     
     
    Wir alle waren Gefangene in diesem Haus, und unablässig
sannen wir auf einen Weg, uns die Freiheit zurückzuerobern.
Zu diesem Zweck schliefen wir bei Tage, wenn in dem Haus die
größte Unruhe und Wachsamkeit war, und nachts kamen
wir zusammen, über alle Schranken hinweg, die nun nicht mehr
existierten, und beratschlagten uns. Niemand indes hatte einen
Einfall. Eigentlich schwelgten wir nur in Phantasien des
Entkommens, wir stellten uns ein Leben außerhalb des Hauses
vor, doch wenn ich oder ein anderer einen konkreten Vorschlag
machte, wie dieses Leben zu verwirklichen sein könnte,
schreckten die anderen zurück und verkrochen sich in die
Höhlen ihres Selbst. Mir jedoch war die tatsächliche
Flucht das Wichtigste. Und eines Nachts traf ich mich mit Gramm,
der derselben Meinung war wie ich. Es war eine furchtbare Nacht.
Ein Wind wie aus den Kavernen des Nichts taumelte um das Haus,
biß in die Fenster, leckte an den Rolläden, knurrte um
die Ecken und zerhackte unsere flüsternden Stimmen.
»Diese Nacht ist die richtige«, sagte Gramm,
während er sich die Hände rieb und mich aus seinen
unerträglich hellen, weißlichgrauen Augen ansah.
»Wir können noch nicht fliehen«, gab ich zu
bedenken und wand mich auf dem klapprigen Stuhl, dessen Knarren
wie ein Echo des Windes war. »Wir haben keinen Plan. Und
vor der Tür sitzt dieses – dieses Ding.« Gramm erschauerte. Plötzlich schien ihn alle Zuversicht
verlassen zu haben. Er sank in sich zusammen wie ein Leib, aus
dem man die Knochen entfernt hat. Und der Wind kreischte vor den
Fenstern.
    Lange hockten wir da und schwiegen. Wir starrten auf die
ehemals weißen Wände, die ein verwirrendes Muster von
schwarzen Schlieren überzog – kleine Tiere, die ich an
der Wand totgeschlagen hatte, Mücken, Spinnen, Fliegen, aber
auch anderes. Vor dem undichten Fenster zuckten Fäden im
Luftzug, Staubfäden, Spinnenfäden. All das hinter sich
lassen! Dieser Wunsch wurde in mir wieder übermächtig.
Die knarrenden Stühle, das knarrende Bett, die kalten,
feuchten Laken – es war genug. Ich sagte es Gramm in
duldloser Deutlichkeit.
    Und wir gingen. Ich war erstaunt, wie leicht es war, denn die
Tür meines Zimmers war überhaupt nicht verschlossen.
Wir mußten vorsichtig sein, um den Wächter nicht zu
wecken. Draußen auf dem Flur brannte eine trübe
Notbeleuchtung und warf hinter den Wächter einen grotesken,
unförmigen Schatten wie einen buckeligen Berg, bestanden mit
einzelnen mageren Fichten etwa, oder wie ein altersschwaches Haus
mit verrückt hohen Antennen. Der Wächter rührte
sich nicht. Wir wagten nicht, frech an ihm vorüberzugehen,
sondern schlugen auf unseren leisen Kreppsohlen die andere
Richtung ein.
    Die Türen aller Zimmer standen entweder offen oder waren
ausgehängt, doch niemand schloß sich uns an. Manche
glotzten uns verständnislos entgegen, manche schliefen; es
waren auch jene darunter, mit denen wir Pläne geschmiedet
hatten, aber so einfach es ihnen auch gewesen wäre, zu uns
auf den trüben Gang herauszutreten, wagte es doch niemand.
Uns war es einerlei.
    Wir kamen an eine Biegung des Flures; er knickte nach links
ab, eine andere Richtung gab es nicht. Vorsichtig spähten
wir um die Ecke. Dort erstreckte sich ein gleicher Flur wie der,
aus dem wir kamen; er schien in einem Geviert zu verlaufen, doch
hier saß nirgendwo ein Wächter. Schnell
schlüpften wir um die Ecke und fühlten uns vor den
tausend Augen des Wächters in Sicherheit.
    Auch hier waren alle Türen offen. Das bleiche Licht der
immerbrennenden Notbeleuchtung – nie waren die
tellerförmigen großen Lampen an der Decke in Betrieb
– zeigten uns unsere Kollegen, wie sie arglos in ihren
offenen Käfigen in der tiefen Nacht verloren waren.
Plötzlich kamen wir an eine Treppe, die hinter einer
ebenfalls offenstehenden Glastür nach unten führte und
nur nach unten. Wir betraten sie vorsichtig.
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