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Nonnen

Nonnen

Titel: Nonnen
Autoren: Michael Siefener
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machten es, wie er einmal gelesen hatte, die
großen Schriftsteller. Doch Benno strebte nicht nach dem
Nobelpreis, den bekam man sowieso nur, wenn man einer Minderheit
angehörte, verfolgt wurde und ins gerade vorherrschende
politische Bild paßte. Mit Literatur hatte das ganze
Spektakel schon lange nichts mehr zu tun. Doch auch früher
war es wohl nicht viel anders gewesen. Wer am lautesten schrie,
hatte die besten Chancen. Joyce, Kafka, Arno Schmidt: Niemand von
den Großen hatte eine wirkliche Chance bekommen. Auch
Schmidt hatte seine Protagonisten anhand von Versandhauskatalogen
ausgestattet. Benno brauchte sich nicht zu schämen, es kam
nur darauf an, was man sagen wollte. Wollte er mit seinen
Erzählungen überhaupt etwas sagen? Nicht den anderen,
nur sich selbst. Er lächelte. Wollte er etwa sich selbst
etwas sagen, was er noch nicht wußte? Nein, es war ganz
anders. Was er erschuf, war ein verwunschener Garten, in dem nur
er umherwandeln durfte. Daß auch sein Kollege nun den
Versuch machte, dieselben Gefilde zu besuchen, ärgerte
Benno. Hätte er diesem Ignoranten doch bloß nie etwas
von sich zum Lesen gegeben! Von der Melaten-Geschichte jedenfalls
würde er niemandem erzählen, und er schwor sich, sie
nicht mit in sein Büro zu nehmen.
    Das Wochenende war da, Benno atmete auf. Er war mit seiner
Geschichte nicht weitergekommen, und er wollte sich zuerst
Klarheit über das Ende verschaffen, bevor er in konkrete
Recherchen eintauchte. An den vergangenen Abenden hatte er
mehrere Möglichkeiten erwogen, aber wieder verworfen, doch
nun lag die Handlung klar wie ein Oktobermorgen vor ihm.
    Am Samstag ging Benno früh nach Melaten. Vor langer Zeit
hatte er sich ein Buch über diesen faszinierenden Friedhof
gekauft, er nahm es mit, um Anmerkungen zu machen, wenn eine
Abbildung darin von der Realität abweichen sollte. Er trug
den Weg, den er von dem kleinen Seitenportal an der
Weinsbergstraße nahm, detailverliebt in ein winziges
Notizbuch ein, die Bäume, die Gräber, die Namen der
Statuen. Er war sicher, daß er vieles davon nicht brauchte,
doch es machte ihm Spaß, vollständig in seiner Arbeit
aufzugehen. Je mehr Informationen er sammelte, desto dichter
wurde das Bild in seinem Kopf. Ob er es in gleicher Genauigkeit
zu Papier bringen würde, war zweitrangig.
    Er ging zu dem tief im Friedhof verborgenen Sensenmann, einer
höchst eindrücklichen Grabskulptur in der Gestalt eines
Skelettes, das von einem wallenden Steinmantel umhüllt war,
und notierte ihren Zustand, ihre Umgebung und entdeckte nun zum
ersten Mal, daß an seinem Fuß etliche Plastik- und
Keramikfrösche aufgestellt waren. Neben der Skulptur stand
ein kleiner Findling als Grabstein. Es war ein Kindergrab. Nein,
das paßte nicht in seine Geschichte. Er überlegte eine
Weile, ob er es erwähnen sollte, doch er entschied sich, es
fortzulassen. Zuviel Realität, zuviel von solcher
Realität, war nicht gut.
    Dieses Grabmal bearbeitete der Restaurator, diesen
personifizierten Tod, und hier würde alles beginnen. Benno
notierte die Beschaffenheit der Wege, die verschiedenen
Bäume, den Gesang der Vögel in seinem Büchlein, um
viel von dieser Atmosphäre festzuhalten und später
wiederzubeleben. Das war das wichtigste für ihn: Stimmung.
Er mußte sich vollkommen in die Stimmung der Geschichte
hineinversetzen können. Nur das garantierte, daß er
sich darin wohl fühlte.
    Lange schlenderte er noch über den Friedhof, es roch nach
dem nahenden Herbst. Er setzte sich und genoß die Sonne im
kühlen Wind. Nun würde er einige Seiten weiterkommen.
Aber er durfte nichts überhasten. Es war wichtig, daß
er so lange wie möglich das Schreiben, und damit das
geschriebene Leben, genießen konnte. Wenn eine Geschichte
fertig war, hatte sie für Benno kein Interesse mehr, dann
waren die Stimmungen verflogen, und nur selten holte er nach
langer Zeit einmal eine alte Erzählung wieder hervor und
versuchte, sich an die Gefühle zu erinnern, die er
während des Verfassens gehabt hatte. Oft gelang es ihm nicht
mehr. Daran bemerkte er, daß er älter wurde; seine
Empfindungen wechselten, verfärbten sich. Damals waren
manche seiner Novellen heiter gestimmt gewesen, lange, lange war
es her. Doch der Winter wurde stärker und stärker, die
Echos wurden lauter, das Leben um ihn herum wurde leiser.
    Aber selbst die finsterste Traumwelt war lichter als der
Alltag. Benno dachte an seine schäbige kleine
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